Der Zauber der Orte

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

April 17, 2018

Mit:
Christiane Fink
Stefan Brönnle
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AUSGABE:
Ausgabe 18 / 2018:
|
April 2018
Was ist heute heilig?
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Erfahrungsräume des Verbundenseins

Wir alle haben wohl schon die Erfahrung gemacht, dass es besondere Orte gibt, die uns mit uns selbst und mit der Lebendigkeit des Lebens tiefer verbinden. Stefan Brönnle und Christiane Fink arbeiten an der Erforschung und Gestaltung solcher »heiligen Orte«. Wir sprachen mit ihnen über die Wahrnehmung der atmosphärischen Qualitäten von Orten und warum solche Erfahrungen des Verbundenseins heute so wichtig sind.

evolve: Wenn wir der Welt als Ort begegnen, wenn wir in Häusern leben, uns durch Städte bewegen oder in die Natur gehen, dann können wir wahrnehmen, dass Orte unterschiedliche Qualitäten haben. In vielen Traditionen wurde auch von heiligen Orten gesprochen. Können Sie sich in Ihrer Arbeit mit dieser Idee heiliger Orte verbinden? Wie würden Sie solche Orte beschreiben?

Chistiane Fink: Ich arbeite mit Menschen, die eine geomantische Planung möchten, aber auch mit solchen, die von alldem nichts wissen. Im Gespräch mit den Menschen zeigt sich dann meist schon, dass sie eine Ahnung dieser Qualität besonderer Orte haben. Und ohne das Wort »heilig« zu benutzen, kann man in solchen Gesprächen in eine Tiefe kommen. Kürzlich hatte ich ein Erlebnis mit Architekten, die oft sehr allergisch auf die Idee solcher heiligen Orte reagieren. Es ging dabei um eine alte Linde, und einer der Architekten hatte zugegeben, dass er eine Weile unter dem Baum gesessen und es als einen spirituellen Raum wahrgenommen habe.

Stefan Brönnle: Erfahrungen, wie sie Christiane schildert, hat wahrscheinlich jeder schon einmal gemacht. Gibt es Orte mit einer solchen heiligen Qualität? Ja, davon bin überzeugt. Aber zunächst sollten wir klären, was wir mit »heilig« meinen. Für mich bedeutet heilig so viel wie »ganz sein«, es hat viel mit dem Wort »heil« zu tun. Heilig ist also etwas, das ganz ist und auch ganz macht. Heilig ist etwas, das mich spirituell der Ganzheit etwas näher bringt.

Zudem gibt es heilige Orte, die auch als solche gepflegt werden. Ein heiliger Ort grenzt sich von der Umgebung ab. Wenn ich etwas Heiliges benenne, dann benenne ich immer auch etwas Profanes. Diese Wahrnehmung abgegrenzter heiliger Orte ist ein eher späteres Phänomen unserer Menschheitsgeschichte. In der Frühzeit war den Menschen die ganze Erde, die ganze Natur heilig, so wie ein Embryo im Mutterleib alles als Mutter erfährt. Erst im Verlust des gesamtheitlich Heiligen wurden dann heilige Orte definiert.

Die Beziehung zu heiligen Orten ist uns zum großen Teil verloren gegangen. Aber ich denke, wir brauchen sie weiterhin, sonst würden nicht so viele Menschen nach Lourdes oder Santiago pilgern, um in diese Erfahrung zu kommen. Der heilige Ort ist im Grunde ein Raum, der mich unterstützt, ein Stück weit spirituell ganzheitlicher zu werden. So ein Ort kann von Natur aus da sein, oder es ist ein Ort, der von Menschen geschaffen wird.

Numinose Präsenz

e: Was macht einen Ort zu einem heiligen Ort?

SB: Das Essenzielle daran ist die Wahrnehmung einer numinosen Präsenz. Numen bedeutet »das nicht Greifbare«, eine Art atmosphärischer Zustand. Es ist ein Raum, der in mir etwas initiiert. Für mich bedeutet jede Ortsveränderung auch eine Veränderung des Bewusstseins. Wenn ich mich an einen heiligen Ort begebe, findet demnach auch in mir eine Bewusstseinsbewegung hin zu mehr Ganzheit statt. Es gibt also einerseits die Bewusstseinsveränderung des Menschen und andererseits die numinose Bewusstseinskraft eines Ortes, die mich berührt.

e: Heilige Orte sind also einerseits durch mythologische Verbindungen gegeben, wir können sie aber auch aktiv gestalten. Frau Fink, wie verändert sich Ihr Blick als Gartenarchitektin, wenn Sie diese Dimension miteinbeziehen?

CF: Der Blick erweitert sich über das Funktionale hinaus. Am Anfang der Planung stehen die Form und die Funktion, die natürlich wichtig sind. Für mich erweitert sich dieser Blick um eine ungeheure Dimension. Für mich ist es der Anspruch, dass jeder Ort, den ich gestalte, ein heiliger Ort wird. Dabei beteilige ich den Hüter dieses Ortes, also in der Regel den »Besitzer« oder Bewohner, um zu verstehen, welche Geschichte dieser Mensch und dieser Ort haben, und welche gemeinsame Geschichte sie haben. Aus diesem Verständnis können Gestaltungen entstehen, wo kleine Ecken eine Heiligkeit und eine Bedeutung bekommen, über die man sonst hinwegschaut. Der Ort bekommt einen Zauber. Und das ist eine Dimension, die sich für mich eröffnet hat, nachdem ich mich mit der Geomantie beschäftigt habe.

e: Sie haben vom Hüter des Ortes und vom Zauber eines Ortes gesprochen, was mich an eine Aussage von Herrn Brönnle erinnert hat, dass diese Orte eine Beziehung zum Unfassbaren eröffnen können. Können Sie diese beiden Aspekte, den Hüter und den Zauber eines Ortes noch etwas beschreiben?

CF: Der Hüter eines Ortes ist jemand, der sich dieses Ortes annimmt, und eine Verantwortung dafür empfindet, und auch den Wunsch verspürt, sich wirklich auf diesen Ort einzulassen. Viel von dem Zauber liegt für mich dann auch in dieser Berührtheit des Menschen, wenn ich merke, dass bestimmte Orte eine seelische Tiefe in ihm ansprechen. Dabei kann man auch spüren, dass verschiedene Orte unterschiedliche Qualitäten ausstrahlen, an manchen Orten ist eine starke Herzkraft spürbar, an anderen Orten spüren wir unsere Lebenskraft. Bei Räumen, die einen ansprechbaren Hüter haben, ist es für mich nicht so wichtig, was ich an diesem Ort spüre. Für mich ist es wichtiger, welche Qualität dort für den Hüter vorliegt. In der Gestaltung ist es natürlich ein Unterschied, ob es einen solchen Hüter gibt oder ob es einen solchen Ansprechpartner nicht gibt.

In meiner Arbeit ist es mir ein Anliegen, dieses Hören auf die Erde zu kultivieren.

Christiane Fink

In Beziehung sein

e: In Ihren Worten zeigt sich eine menschliche Beziehung zu einem Ort, die für uns doch eher ungewöhnlich ist. Hat diese Beziehung auch etwas mit der Wahrnehmung des Heiligen zu tun?

SB: Um etwas wahrzunehmen, muss ich natürlich in Beziehung treten. Für mich gibt es zwei Ebenen, die einen heiligen Raum definieren: einmal der heilige Raum aus sich selbst heraus, wobei sich die Erde als Wesen oder sich das Göttliche als gesamtkosmisches Bewusstseinsphänomen an einem Ort zeigt. Das lässt sich auch an bestimmten Phänomenen festmachen, die wir benennen können. Man muss also dieses Numinose nicht-numinos machen, indem man einen Namen dafür findet. Der andere Aspekt ist immer der Mensch, also wie begegnet der Mensch diesem Ort? Wenn aus irgendwelchen Gründen eine Ablehnung da ist, dann ist natürlich keine Begegnung möglich. Wenn ich mit Menschen, die eher schamanisch orientiert sind, in eine Kirche gehe, stoße ich zunächst auf eine Ablehnung. Dann muss ich etwas Vorarbeit leisten, damit diese Menschen die numinose Präsenz in einem Kirchenraum überhaupt spüren können. Und hier kommt auch die Gestaltung ins Spiel. Wenn ich in der Natur an einen Ort komme, wo ein wunderschöner Felsen ist, dann öffnet er allein ästhetisch viel mehr in mir, weil er die Bereitschaft unterstützt, diesem Ort begegnen zu wollen. Wenn dort Müll liegen würde, wäre das natürlich ganz anders. Das Heilige aus sich heraus kann auch da sein, wenn dort Müll liegt, aber der Mensch wird dieser Dimension schwerer begegnen können. Das heißt, die äußere Gestaltung mit Pflanzen oder Architektur dient dazu, den Menschen aufnahmebereit zu machen für das, was in diesem abgegrenzten Raum geschieht.

Für mich bedeutet jede Ortsveränderung auch eine Veränderung des Bewusstseins.

Stefan Brönnle 

e: Wenn Sie sagen, dass sich an so einem Ort etwas vom Wesen der Erde zeigen kann, dann sprechen Sie von einer anderen Form der Wahrnehmung. Inwieweit ist diese Wahrnehmung heute wichtig für uns?

SB: Wenn ich mir die ökologische Situation heute auf unserer Erde anschaue, dann gibt es nichts Wichtigeres – in einer Zeit, in der wir eine Vermüllung der Meere erleben, wo ganze Inseln voller Plastikmüll im Meer treiben. Oder ein kleineres Beispiel: In unserem Garten hatten wir zwei Birken, die eng nebeneinander wuchsen und wir entschlossen uns nach langem Überlegen, einen Baum zu fällen, damit der andere mehr Raum hat, um sich zu entfalten. Da kam sofort der Nachbar und meinte, ob man den anderen nicht gleich auch fällen könnte. Solches Hinwegfegen über Lebewesen und natürliche Räume im Großen und Kleinen kommt daher, weil wir diese Räume nicht mehr als heilig empfinden. Unsere Antwort gegenüber unserem Nachbarn war: »Unsere Tochter liebt diesen Baum.« Und seine Antwort war: »Ach, Kinder!« Genau das ist aber das Problem, dass wir hinwegfegen über Lebewesen und Tiere zu Fleischproduktionsmaschinen machen. Das ist nur möglich, weil wir sie nicht als heilig empfinden.

e: Über was fegen wir da hinweg?

SB: Dass ein Baum ein Ausdruck der Heiligkeit der Erde ist, und die Erde ein Ausdruck der Heiligkeit des Kosmos ist. Diese empfundene Göttlichkeit ist aber natürlich eine individuelle Empfindung, aber sie kann von vielen Menschen geteilt werden. Das ist eine Intersubjektivität, es bleibt subjektiv, und dennoch können viele Menschen diese Subjektivität miteinander teilen.

Ich habe an der Hochschule in Weihenstephan einen Lehrauftrag für Feng Shui und Geomantie in der Landschaftsarchitektur. Wenn ich dort mit den Studenten spreche, dann ist es erst mal ein großer Schritt, sie aus der rein ästhetischen Perspektive ins Fühlen zu bringen. Also bewusst nachzuspüren, was durch bestimmte Gestaltungen entsteht. Dieses Gefühl der eigenen Wahrnehmung, auch des Heiligen ist uns abhandengekommen und wir können es deshalb auch im Außen wesentlich schwieriger wahrnehmen.

Eine Kultur des Zuhörens

e: Diesen Begriff der Intersubjektivität finde ich hier besonders spannend. Frau Fink, wenn Sie darüber sprechen, dass sich jemand eines Ortes annimmt, oder Sie, Herr Brönnle, diese Wahrnehmung der Orte ansprechen, findet dies in einem intersubjektiven Raum statt. Dieser Raum ist aber nicht fassbar und es braucht eine gewisse Sensitivität, um ihn wahrzunehmen. Ist das der Raum, der uns im technischen Blick verloren geht.

CF: Für mich ist Geomantie eine Kultur des Zuhörens, und das geht bis in die Politik hinein. Wir als Subjekte haben unterschiedliche Wahrnehmungen, unterschiedliche Innenwelten, aber wenn ich mich auf einen Ort, auf die Erde einlasse, wenn ich lausche, was mir dieser Ort sagen will, dann kann ich mich mit anderen Menschen darüber austauschen. Und möglicherweise stelle ich fest, dass wir zu zehnt an einem Ort waren und jeder hat etwas anderes erlebt. Dann ist es wichtig, auch meine Mitmenschen mit ihrer subjektiven Wahrnehmung anzuhören. Aber dieses Zuhören geht immer mehr verloren. In meiner Arbeit ist es mir ein Anliegen, dieses Hören auf die Erde zu kultivieren und den Wahrnehmungen anderer zuzuhören. Letztendlich ist es die Offenheit für das, was mir von der Erde entgegenkommt, und das, was mir vom anderen Menschen entgegenkommt.

Die Begegnung mit einem heiligen Ort kann für viele eine Initiation sein. 

Christiane Fink

SB: Was Christiane hier beschreibt, ist ja die Bereitschaft, dem Du zu begegnen. Also der Subjektivität des anderen in seinem Weltbild begegnen zu wollen. Meiner Ansicht nach kommt das Heilige nicht ohne Subjektivität aus, und ich würde noch einen Schritt weitergehen: Die Objektivität, die wir überall erhalten wollen, ist eigentlich eine Fiktion. Die Wissenschaft stützt sich auf diese Objektivität, aber was wir haben, sind Messdaten, die dann auch noch harmonisiert werden. Das heißt, Werte, die von der Norm abweichen, werden weggelassen. Ich denke, eine absolute Objektivität gibt es nicht, es gibt eine Annäherung in einer Intersubjektivität, sonst könnten wir uns gar nicht unterhalten. Natürlich gibt es eine gemeinsame Wirklichkeit, aber um dem Heiligen begegnen zu können, muss ich die Bereitschaft haben, meiner eigenen Subjektivität, meinem eigenen Innern begegnen zu wollen. Dann kann ich dem anderen Menschen begegnen oder anderen Menschen in der Schaffung eines intersubjektiven Feldes begegnen, das für viele Menschen ein heiliger Raum ist.

Der heilige Ort ist im Grunde ein Raum, der mich unterstützt, spirituell ganzheitlicher zu werden.

Stefan Brönnle 

Erfahrungsräume

e: In Ihrer Arbeit beschäftigen Sie sich beide mit der Kultivierung heiliger Orte. Die Voraussetzung dafür ist natürlich die Wertschätzung solcher Orte. Weshalb sind solche heiligen Orte für uns so bedeutsam?

SB: Weil sie uns in die Selbstwahrnehmung führen. Menschen, die wirklich etwas gefühlt oder erlebt haben, werden sich dies von niemandem ausreden lassen. Liebe ist im eigentlichen Sinne noch nie bewiesen worden. Es gibt Hormonschwankungen o. Ä., aber das eigentliche Gefühl der Liebe ist noch nie erfasst worden. Dennoch wird niemand in Abrede stellen, dass es Liebe in den verschiedensten Formen gibt, gegenüber einem Kind, einem Partner, zu den Eltern. Wenn ich einen heiligen Ort erfahren habe – und was dadurch in mir verändert wurde, was ich als Same wieder in den profanen Raum mitnehme –, dann werde ich diesen Ort schützen wollen. Wir brauchen solche heiligen Orte und Räume als Rückzug, zur Kontemplation, als Erfahrungsraum, um mit dieser inneren Heiligkeit in Beziehung kommen zu können. Das kann natürlich auch in der eigenen Wohnung passieren, wenn ich mir dort solch einen Raum schaffe.

CF: Ja, wir brauchen eine Wertschätzung dieser besonderen Orte, die wir auch ganz in unserer Nähe, z. B. in einem Stadtpark finden können. Die besonderen heiligen Orte, wie z. B. Wallfahrtsorte, sind wichtig, weil dort das Erleben so einfach oder so stark ist, dass es uns helfen kann, überhaupt eine heilige Dimension wahrzunehmen. Die Begegnung mit einem heiligen Ort kann für viele eine Initiation sein, um solche Orte auch im Wald oder dem Stadtpark zu finden. In meiner Arbeit mit Menschen habe ich auch erfahren, dass viele dadurch einen neuen Kontakt zur Erde finden können und sich selbst als geerdet erleben. Mit unserem Leben in den Städten sind viele Menschen nicht mehr geerdet, sie verlieren sich oft in der digitalen Welt. Wirklich zu spüren, dass wir mit den Füßen auf der Erde stehen, ist für viele Menschen schon ein großes Erlebnis.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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