Die Rettung des Heldentums

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Book/Film Review
Published On:

October 19, 2017

Featuring:
Christopher Nolan
Hans Zimmer
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Issue 16 / 2017:
|
October 2017
Lichtblicke für eine verwundete Welt
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Über den Film »Dunkirk«

Das Thema des Films »Dunkirk« ist die Geschichte einer der größten Rettungsaktion der Militärgeschichte während des Zweiten Weltkriegs. 400.000 britische und französische Soldaten waren auf dem Rückzug vor der deutschen Armee in der Nähe von Dünkirchen an der Ärmelkanalküste Nordfrankreichs eingekesselt. Die Briten waren nur knapp 80 km vom Strand Dovers entfernt. Um sie zu retten, stach eine zivile Flotte in See, die unter dem Namen »die kleinen Schiffe von Dünkirchen« bekannt wurde: 800 Fischerboote, Vergnügungsdampfer, Rettungs­boote und geeignete Schlauchboote. Gesteuert von normalen Leuten fuhren sie quer über den Kanal und retteten 330.000 Soldaten, die voller Hoffnung an der Küste warteten, während sie von deutschen Kampffliegern wahllos abgeschossen wurden. Es ist eine wahrhaft heroische Geschichte – tatsächlich viele einzelne Geschichten des Heldentums.

In seinem Film »Dunkirk« erzählt Regisseur Christopher Nolan keine einzige davon, wenigstens nicht auf die Weise, die wir erwarten. Zu Beginn des Films wissen wir fast nichts vom geschichtlichen Kontext. Wir sehen eine kleine Truppe britischer Infanteristen bei ihrem Rückzug auf den Strand. Wir folgen ihren qualvollen Versuchen, Schutz zu suchen. Aber wir lernen sie nicht näher kennen. Wir erfahren nichts über ihren Hintergrund oder die besonderen Merkmale ihrer Persönlichkeiten. Auch die Nazis bleiben ein nicht näher erklärter Feind, es wird kein Aufwand getrieben, um die moralische Überlegenheit der Alliierten zu betonen. Wie eine Plage ist der Feind überall und nirgends, unerbittlich, zufällig und eher eine unpersönliche Macht als ein wütender Gegner.

EIn »Dunkirk« spüre ich die Geschichte der ganzen Menschheit.

Visuell ist »Dunkirk« distanziert und zurückhaltend, tontechnisch jedoch sehr aufdringlich. Ich habe noch nie so einen Sound­track gehört. Geschrieben von dem bekannten Film-Komponisten Hans Zimmer ist er ein schmetterndes Amalgam der szenischen Töne: explodierende Bomben, heulende Sirenen, klirrende schwere Ausrüstung, das Brüllen des Ozeans. Man hört die menschlichen Geräusche von Flucht, Herzklopfen, Keuchen und Tod. Es ist ein extremes Beispiel einer Ästhetik, die den Zuschauer mit einer eindringenden, erschütternden Erfahrung konfrontiert. Der Zuhörer soll sich so fühlen, als ob er diese Schlacht erlebt hätte. Eine andere Idee, durch die Nolan unsere Vorstellung herausfordert, ist die Dekonstruktion von Zeit. Der Film entwickelt drei Zeitlinien: eine Woche für die Soldaten am Strand, einen Tag für einen Seemann, seinen Sohn und dessen Freund in einem der kleinen Boote und eine Stunde für den Luftkampf zwischen einem britischen und einem deutschen Piloten. Nolan wechselt von Ort zu Ort und evoziert damit eine Desorientierung, die uns von konventioneller Wahrnehmung der Wirklichkeit löst.

Die wichtigste kreative Entscheidung dieses Filmes ist die Wahl des Themas selbst: die Schlacht bei Dünkirchen. Dieses Ereignis passierte tatsächlich. Es gibt kein Entkommen von ihrer Bedeutungskraft als eines der großen Kriegereignisse aller Zeiten. Das Heldentum der Charaktere, von den Soldaten am Strand bis zu den zivilen Skippern der zusammengewürfelten Flotte und der Stimme Churchills, die wir ganz am Ende hören – sie existieren in den Köpfen von Millionen von Menschen und vielleicht im karmischen Feld der ganzen Menschheit. Man könnte der Schlacht von Dünkirchen nicht ihre Tiefe nehmen, selbst wenn man es versuchte. Und Nolan will es ganz sicher nicht.

Es gibt drei oder vier Momente in dem Film, in denen er uns den Heldenmut der Charaktere spüren lässt. Da ist der Moment, als der Kampfpilot eine schicksalhafte Entscheidung trifft. Oder als auf dem Boot die fürchterliche Tat eines der Charaktere mit herzerweichender Vergebung beantwortet wird. Viele Kritiker haben die unpersönliche Natur der Charaktere bemängelt und einer schlug vor, dass es darum ginge, uns mehr in die scheinbar aussichtslose Lage der Schauspieler hineinversetzen zu können. Das mag sein, aber ich habe weder die Geschichte der Charaktere noch meine eigene erlebt, sondern die Geschichte der ganzen Menschheit.

Für mich fühlt sich das wie etwas Neues an: eine traditionelle Geschichte, die mit einer postmodernen Stimme erzählt wird, in der das Beste von beiden einbezogen ist. Sie werden damit transzendiert zu einem neuen künstlerischen Ausdruck des Menschseins, in dem Heldenmut weder belächelt noch mythologisch überhöht wird – und in die Erkenntnis befreit wird, dass dieser Heldenmut real und für uns individuell und kollektiv möglich ist. Und wir die Verantwortung tragen, ihn zu kennen, zu nähren und zum Wohle des Ganzen auszudrücken.

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