Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 17, 2018
Die Ausgabe 18 von evolve haben wir mit Arbeiten des Künstlers Rafael Araujo gestaltet. Wir sprachen mit ihm über das Anliegen seiner Kunst.
evolve: Sie verbinden Mathematik und Geometrie mit Kunst oder erstellen Kunstwerke mit mathematischen und geometrischen Gleichungen und Maßstäben. Was interessiert Sie an dieser Verbindung?
Rafael Araujo: Meine Arbeit ist sehr präzise, weil ich davon ausgehe, dass eine Art Wahrheit in dem liegt, was ich tue. Jeder sucht im Leben nach Wahrheit, die sehr schwierig zu finden ist. Meine Kunst hat ihre Wahrheit in sich selbst, weil sie auf Mathematik basiert. Sie basiert auf Gleichungen, die, so könnte man sagen, wahr sind. Auch der Beobachter kann sehen, dass das, was ich da tue, Wahrheit in sich trägt. Das ist eine philosophische Haltung im Leben in Bezug auf Wahrheit, die unerreichbar ist, aber in meiner Arbeit habe ich das Gefühl, dass sie in gewisser Weise da ist.
e: Wie kamen Sie zu dieser Art von Kunst?
RA: Als ich jung war, sah ich die Arbeiten von M. C. Escher. Ich war sehr beeindruckt von seiner Kunst. Ich war ein guter Zeichner und begann, in der Perspektive und im Zeichnen zu suchen, und ich tauchte tief in das Thema ein. Das wurde zu einer eigenen Welt. Es war wie eine Kraft, die mich zwang, das zu tun. Vielleicht verspürt jeder Künstler diese Art von Pulsieren.
e: War es auch eine Faszination von dieser Präzision und Schönheit, die diesen sehr genauen und präzisen Formen innewohnt?
RA: Ja, ich bin von Präzision fasziniert. Ich mache alles per Hand. So muss diese Präzision mit alten Werkzeugen wie Zirkel und Zeichenbord erreicht werden. Es ist viel einfacher, das alles mit dem Computer zu machen, aber ich bestehe darauf, es mit der Hand zu machen, weil ich die Fertigkeiten besitze, das zu tun. Es eigenhändig zu tun, schafft einen bestimmten Wert oder fügt eine weitere Ebene von Wert hinzu. Das entspricht dem Geiste der Renaissancemalerei. Und wenn man es per Hand macht, muss man wirklich die Kunst der Geometrie beherrschen.
e: Wie finden Sie die Themen und Formen, die Sie gestalten wollen?
RA: Meistens arbeite ich mit Spiralen, die mehr oder weniger mein Thema sind. Ich versuche, die bestmöglichen Proportionen beim Zeichnen von Spiralen zu finden. Das ist etwas, das man nicht vorhersehen kann. Man muss es tun, um es zu sehen. Ich zeichne sie immer wieder, um sie immer besser zu gestalten. Was ich bei der letzten nicht so gut hinbekam, kann ich bei der nächsten besser machen. Tatsächlich suche ich nach Perfektion und jede Arbeit ist ein Schritt zur nächsten. Ich möchte Spiralen in unterschiedlicher Weise dreidimensional darstellen. Und weil Spiralen nicht so interessant für andere Leute sein könnten, nehme ich Schmetterlinge hinzu, damit die Spiralen interessanter und leichter zu sehen sind. Ich suche nach den bestmöglichen Proportionen, um die Schmetterlinge fliegen zu lassen. Da ich es per Hand mache, kann ich nicht sicher sein, wie es aussehen wird, bevor ich fertig bin. Wenn ich fertig bin, bin ich fast immer unzufrieden und versuche, beim nächsten Mal besser zu werden. Ich denke, das geht allen Perfektionisten auf der Welt so.
e: Sie benutzen oft den Goldenen Schnitt. Es heißt, er sei ein universales Muster. Was bedeutet der Goldene Schnitt für Sie?
RA: Der Goldene Schnitt hilft mir, die Perfektion zu erreichen, von der ich gesprochen habe. Nicht notwendigerweise, aber er ist ein Erste-Klasse-Fahrschein, mit dem die Suche bequemer wird. Aber Proportionen sind unendlich und der Goldene Schnitt ist eine davon. Vielleicht sichert er eine bestimmte Grundordnung der Dinge, die mir eine gute Grundlage gibt. Aber ich weiß nicht, wie es funktionieren wird, bevor ich fertig bin.
Der Goldene Schnitt ist ein Muster, das in der Natur gefunden werden kann und beschreibt die Beziehung zweier Teile zueinander mit einer bestimmten Zahl. Er steht auch in enger Beziehung zu den Fibonacci-Zahlen, die zeigen, in welcher Sequenz z. B. die Blätter der Bäume wachsen, es sind Sequenzen, die wir immer wieder in der Natur finden.
Der Goldene Schnitt ist schwer zu erklären, ich denke nicht darüber nach, ich benutze ihn. Er passt wunderschön in meine Arbeiten, aber ich denke nicht viel über sein Wesen nach. Für mich ist es eher wie ein Werkzeug, es erlaubt mir sehr komplizierte Berechnungen mit einem hohen Grad an Perfektion anzustellen. Er beschreibt eine mathematische und relationale Proportion mit vielen Eigenschaften, die ich benutze, aber ich kann nicht genau sagen, warum sie funktionieren. Es ist unmöglich, platonische Formen ohne den Goldenen Schnitt zu berechnen. Der Goldene Schnitt erschafft außerordentlich schöne Proportionen; ich benutze ihn nicht als Mathematiker, sondern als Zeichner.
e: Was mich an Ihrer Arbeit fasziniert ist die Verbindung von Präzision und der Schönheit natürlicher Formen, die Sie zeigen, wie Schmetterlinge und Schneckenhäuser. Arbeiten Sie bewusst mit diesem Kontrast?
RA: Ich erfinde diesen Formen ganz neu, sie existieren so nicht in der Natur. Schmetterlinge fliegen nicht in Spiralformationen. Ich lasse sie spiralförmig fliegen, weil es so wunderschön aussieht. Ich lasse sie in diesen Mustern fliegen, die ich in meiner Geometrie meistere. Das ist der Ausdruck einer bestimmten Wahrheit, die ich handhabe. Sie basieren auf Gleichungen, durch die ich zeige, wie sich eine Spirale in einen 3D-Raum entwickeln kann. Hinzu kommt eine Eleganz, denn wenn man sie anschaut, kann man einen Sinn von Gleichgewicht und Ästhetik empfinden, so hoffe ich zumindest.
e: Aber Sie zeigen eine potenzielle Beziehung zwischen diesen präzisen geometrischen Formen und natürlichen Formen.
RA: Natürlich lasse ich mich stark von der Natur inspirieren. Und ich möchte mit meinen Arbeiten zu Respekt vor der Natur inspirieren. Es ist erstaunlich, wie die Formeln, die ich benutze, funktionieren, wenn ich ein Schneckenhaus gestalte, und wie es möglich ist, sie aus grundlegenden geometrischen Prinzipien zu konstruieren. Es ist fantastisch, diese Schneckenhäuser wie z. B. eine Nautilusschnecke nur aus Zahlen zu konstruieren. Das ist ein interessanter Prozess. Zu Anfang weiß ich meistens nicht genau, wie ich die Gleichungen und Berechnungen anwende. Ich muss sie entwickeln und die Parameter der Form finden. Es funktioniert wunderbarerweise tatsächlich. Wenn ich die Zahlen erst einmal entdeckt habe, muss ich nicht weiter darüber nachdenken, ich muss nur arbeiten. Wenn ich einen Fehler mache, weiß ich, dass ich einen gemacht habe, weil die Dinge nicht richtig zusammenpassen. Dieser Prozess ist so präzise, dass man weiß, wenn man einen Fehler macht. Es ist ein fantastisches Gefühl, so auf Grundlagen einer Wahrheit zu arbeiten. Wenn ich an Schneckenhäusern arbeite, habe ich eine genaue, mathematische Formel, der ich korrekt folgen muss. Aber das ist schwierig, weil es immer schief gehen kann. Ich bin kein Computer, kann also irren. Und es ist nicht lustig, wenn du 40 oder 50 Stunden an einer Arbeit sitzt und bemerkst, dass du einen Fehler gemacht hast. Ich arbeite mit Tinte auf Leinwand. Das ist sehr teuer. Aber wenn ich einen Fehler mache und die Arbeit behalte, schaffe ich es fast immer, ihn auszubügeln und das Werk zu Ende zu bringen. Aber als Perfektionist mag ich nie, was ich tue, aber andere Leute mögen es und das ist wichtiger.
e: Sie arbeiten bis zu 100 Stunden in der Woche an einer Arbeit. Wie erleben Sie diesen langen Schaffensprozess?
RA: Ich arbeite jeden Tag nach einem Stundenplan, mit oder ohne Inspiration. Allgemein gesprochen bestehen meine Arbeiten aus zwei Teilen. Zuerst berechne ich sie in 3D mit Tinte auf Leinwand. So finde ich die Formen. Anschließend muss ich sie malen. Malen ist sehr trickreich, weil man mit dem Auftragen von Farbe alles verlieren und eine perfekte Zeichnung zerstören kann. Wenn ich nach 100 Stunden zeichnen das erste Blau auf die Leinwand gebe, bin ich mir oft nicht sicher, ob dieses Risiko wirklich Sinn macht. Aber das ist meine Arbeit und ich erledige sie und führe sie zu Ende.
e: Aber ist es nicht auch erfüllend, aus all den Gleichungen diese Formen zu erschaffen und zu malen?
RA: Natürlich, aber es kann so viel schief gehen. Weil man sehr schöne Ideen haben kann, aber die Ergebnisse dann doch nicht so toll sind. Es ist ein Kampf um Proportionen und mit sich selbst, um alle Widrigkeiten zu überwinden. Es ist ein riskanter Prozess, der viel Mut erfordert, ein wenig wie ein Jongleur mit acht Bällen in der Luft. Aber ich möchte etwas Schönes erschaffen, Schönheit hat für mich mit Proportionen und Gleichgewicht zu tun. Es ist ein kontinuierlicher Prozess: Von einem Werk ausgehend kann ich sehen, was ich beim nächsten besser machen kann.
e: Welche Beziehung besteht für Sie zwischen den Zeichnungen und der Landschaftsmalerei?
RA: Sie haben nicht so viel miteinander zu tun. In meinen Landschaftsarbeiten versuche ich, die großen Räume darzustellen, wie Horizonte mit sehr großem Himmel. Nicht im Format, sondern in der Wahrnehmung. In der Landschaft interessieren mich auch die Proportionen und das Gleichgewicht zwischen den Teilen, um das Gespür für Schönheit oder sogar Frieden anzusprechen. Manche Leute sagen, sie erleben meine Landschaften als friedvoll. Ich glaube, das hat mit den großen Räumen zu tun. Die Pracht großer Räume wie in der Musik von Anton Bruckner oder Richard Strauss. In ihrer Musik kann man die Herrlichkeit der Alpen erahnen.
e: Das Thema unserer nächsten Ausgabe ist »Das Heilige« und was das in der heutigen Welt bedeutet. Bedeutet Ihnen die Dimension des Heiligen etwas?
RA: Ich bin kein besonders religiöser Mensch und ich habe keinen besonderen Bezug zum Heiligen, solange damit Religion gemeint ist. Aber Zahlen sind in bestimmter Weise heilig. Wenn ich darüber spreche, was ich erfahre, wenn ich eine Muschel zeichne, für die ich nach einer sehr langen Suche die Formel gefunden habe, ja, dann ist das etwas Heiliges. Eine heilige Erfahrung. Aber ich nenne es nicht heilig, weil es so pompös klingt. Ich bin eher ein bescheidener Mensch, also spreche ich nicht über meine heilige Erfahrung. Ich spreche über meine Rechenerfahrung. Die Kommunikation zwischen dem, was ich tue, und einem echten Lebewesen wie einer Muschel ist eine heilige Erfahrung. Auch wenn ich über Wahrheit spreche, hat es etwas mit einer heiligen Erfahrung zu tun, weil Religion immer etwas über die wahren Wege des Lebens zeigen sollte. Wenn ich also mit Wahrheit in der Weise, wie ich damit arbeite, umgehe, ist das in bestimmter Weise meine Religion. Für mich ist das heilige Geometrie, aber normalerweise gebrauche ich solche pompösen Worte nicht. Aber man kann sagen, ich bin ein geometrisches Medium. Ich weiß nicht, woher die Formeln kommen, aber ich bin in der Lage, sie einzufangen. Ich weiß nicht, ob das heilig ist, aber es geschieht.
Rafael Araujo studierte Architektur an der Universidad Simón Bolívar in Caracas, Venezuela, und war Professor für Beschreibende Geometrie und Analytisches Zeichnen am Instituto PRODISEÑO de Caracas. Er lebt heute als freischaffender Zeichner in Venezuela.