Die Unfassbarkeit des Ganzen

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Essay
Publiziert am:

April 17, 2018

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Ausgabe 18 / 2018:
|
April 2018
Was ist heute heilig?
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Eine Quelle des Vertrauens

Aus ihrer langjährigen Erfahrung als buddhistische Lehrerin reflektiert Sylvia Wetzel über ihre Einsichten in das Heilige. Und sie zeigt, wie wir darin tiefere Quellen für Vertrauen, Staunen und einen Sinn unseres Lebens finden können.

Einerseits leben wir hier in Europa in säkularen Zeiten, andererseits gibt es seit etwa vierzig Jahren wieder eine große Sehnsucht nach spirituellen Erfahrungen. Ein Ausdruck davon ist das Interesse an Esoterik und – am Buddhismus. Wir leben in säkularen Zeiten und doch ist Spiritualität »in«, vor allem in zwei Varianten. Als individuelle Bastel-­Religion mit einer Prise fernöstlicher Weisheit, vor allem in Gestalt von buddhistischer Meditation und buntem Esoterik-Allerlei, gerne im Dienste der Selbstoptimierung und der Feier des authentischen Seins im Hier und Jetzt, ohne Einschränkung durch Traditionen und Ethik. Und als fundamentalistisches Beharren auf der Interpretation der eigenen Religion oder Sekte als der einzig wahren, mit vielen Regeln und einer Zeigefinger-Moral. Beide Haltungen kommen vor, können aber den Reichtum einer lebendigen Tradition nicht einmal berühren.

Seit über vierzig Jahren praktiziere ich vor allem tibetischen Buddhismus, habe aber auch langjährige Erfahrungen mit südlichem Buddhismus, dem Theravada, und im japanischen Zen. Und seit über dreißig Jahren unterrichte ich buddhistische Meditation. Ich schätze am tibetischen Buddhismus die große Vielfalt der Übungen, die alle Erfahrungen und Sehnsüchte des Lebens aufnimmt, nicht nur das Bedürfnis nach ein bisschen Ruhe und Sammlung und nach guten Erklärungen, sondern auch die Sehnsucht nach einem göttlichen Du, nach Liturgie und Ritual. Ich halte die Dimension des Heiligen, wie wir hier im christlichen Europa sagen, für unverzichtbar, denn sie zeigt uns ganz unmittelbar die Grenzen unserer Selbstwirksamkeit und führt uns in die Dimension tiefen Vertrauens. Ohne diese Dimension bleiben Befreiung und Erwachen ein Traum und spirituelle Praxis ist bestenfalls fantasievolle und differenzierte Hochkultur voller Spekulationen oder religiöser Hochleistungsport mit eingebautem Selbstbetrug. Die Dimension des Heiligen kann uns daran erinnern, dass wir nicht nur fassbare Menschen mit fünf Sinnen und ein bisschen Verstand sind, sondern auch ein Wunder, das niemand ganz verstehen kann und muss.

In meinen Kursen beziehe ich neben bodenständigen buddhistischen Meditationen zu Sammlung und Einsicht auch Hingabe-Übungen wie die Praxis der Grünen Tara mit ein. Viele Teilnehmer*nnen stellen ganz erstaunt fest, dass sie damit eine religiöse Dimension in sich berühren und zum Teil wiederentdecken, die sie in ihrem säkularen durchstrukturierten Alltag verloren hatten. In meinen Vorträgen reflektiere ich dann den kulturellen Hintergrund dieser Hingabe-Übungen und öffne damit auch eher rationalen und säkularen Menschen einen Zugang dazu. 

Ohne tiefes Vertrauen können Menschen nicht leben.

Viele Menschen können mit den Begriffen Hingabe oder heilig zunächst wenig anfangen. Mit der Frage, was heutigen religiösen und säkularen, humanistischen und agnostischen Menschen noch heilig oder vielleicht »anders« heilig ist als Menschen in traditionellen Religionen, können sie schon mehr anfangen. Der Begriff »heilig« ist eine Ableitung von »heil« und weist auf die Grundbedeutung des Heiligen hin: das, was uns zum Heil führt, was uns heilt, an Leib und Seele. Wenn wir danach fragen, was uns heilig ist, fragen wir eigentlich nach dem, was uns heilt. Was ist uns heilig? Wovon wollen wir geheilt werden? Und wem und was trauen wir zu, uns heilen zu können? Was ist das Geheimnis von heiligen Orten, Zeiten und Liturgien? Was geschieht in und mit Menschen, die sich darauf einlassen wollen und können? 

Orte werden heilig, wenn Menschen sie mit ihren wiederholten Riten und Gebeten weihen. Rhythmisch sich wiederholende Feste werden heilig, wenn sich Menschen durch ihre Praxis an geweihten heiligen Orten immer wieder begegnen und ihre gemeinsamen Werte, ihre Dankbarkeit für das Leben, aber auch ihre Klagen und Sorgen vor dem, was größer ist, ausdrücken. Und sie tun das mit heiligen Liturgien, mit Texten, die die Erfahrungen vieler Generationen in einer Sprache zusammenfassen, die ihre Herzen berührt, oft unterstützt durch eingängige Melodien und Rhythmen. Menschen können sich an heiligen Orten, zu heiligen Zeiten und mit heiligen Liturgien immer wieder dieser unfassbaren Dimension öffnen, die sie trägt, was auch geschieht. In diesem Sinne kann man sagen, die Verehrung des Heiligen ist ein kulturgeschichtlich sehr erfolgreicher Weg, Vertrauen ins große Ganze zu finden und zu stärken, und sich an die Verbundenheit von allem mit allem zu erinnern, sie zu erleben und immer wieder zu feiern. 

Ich glaube, dass heutzutage auch deshalb so viele Menschen in säkularen Gesellschaften am Sinn des Lebens zweifeln, weil sie zu dieser Dimension keinen Zugang mehr haben. Konkretes Vertrauen, in Menschen und zu sich selbst, reicht nicht aus für ein gelingendes Leben. Wir brauchen auch tiefes Vertrauen ins große Ganze, können aber nicht zurück ins Paradies einer heilen religiösen Welt, die es so auch nie gegeben hat. Immer mehr Menschen ahnen, dass sie ohne tiefes Vertrauen ins Leben nicht wirklich leben. Im ausgehenden Mittelalter, im 14. Jahrhundert, beginnt in Europa das Vertrauen ins große Ganze zu schwinden. 

Doch ohne tiefes Vertrauen können Menschen nicht leben. Religion und Kultur wollen und sollen die Aufmerksamkeit für die unendliche Lebendigkeit, Schönheit und Schöpferkraft des großen Ganzen wachhalten, und das Heilige war und ist ein kraftvolles Symbol dafür. Was heutige Menschen so irritiert, ist die zunehmende Einsicht und Erfahrung, dass das große Ganze auch mit ganz viel digitaler Technik weder zu fassen noch zu kontrollieren ist, auch deshalb, weil wir und all unsere Technik ja Teil des Ganzen sind und bleiben. 

Die Schöpferkraft des Lebens, seine Tiefendimension, bleibt unverfügbar, und das nannte man früher Gott oder das Heilige. Das Heilige ist ein Hinweis auf die Unfassbarkeit des großen Ganzen. Wenn wir die Grenzen unseres Denkens und Wissens ahnen, können uns heilige Orte, Zeiten und Liturgien an diese Dimension heranführen. Sie ist nicht irgendwo anders, sondern hier, wo wir gerade sind, und auch in uns. Sie bleibt aber unverfügbar und unfassbar. Wenn wir sie entdecken, beginnen wir wieder, über das Leben zu staunen. »Der Anfang der Ehrfurcht ist das Staunen, und der Anfang der Weisheit ist die Ehrfurcht«, sagt der jüdische Philosoph Abraham J. Heschel. 

Staunen über die Vielfalt und Schönheit in Natur und Kultur kann ein Weg zu einer tiefen Weisheit sein, die weiß, dass alles fassbare Wissen Grenzen hat. Die Wertschätzung des Lebens und die Dankbarkeit für diese schöne Welt sind ein Weg zu dieser Weisheit. Heilige Orte, Zeiten und Liturgien können uns daran erinnern, dass es diesen Weg auch heute noch gibt. Wir entdecken ihn vielleicht, wenn wir uns fragen, was uns heute noch heilig ist. Unsere Familie? Freundschaft? Freie Zeit? Die Menschheit? Die Natur? Tiefe Begegnungen? Musik? Kunst? Wir können da beginnen, wo wir heute stehen. Das, was uns heilig ist, kann uns heilen, denn es weist uns hin auf das große Ganze, das uns trägt, was auch geschieht. Vielleicht brauchen und finden wir neue Symbole dafür. Oder wir finden neuen Sinn in alten Symbolen und entdecken die heilige Dimension in allen und allem.

Author:
Sylvia Wetzel
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