Ein neues Wir

Our Emotional Participation in the World
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Kolumne
Publiziert am:

April 23, 2015

Mit:
Scott Peck
Abdullahi-An-Na ím
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 06 / 2015:
|
April 2015
Wir-Räume
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Was ist das „Neue“ an der neuen Wir-Kultur? Wie wird sie unser Leben verändern?

Wir waren schon immer in einem Wir, menschliches Leben geschah immer in Gemeinschaft. Aber nie zuvor gab es so viele gestaltete Prozesse zur Arbeit mit Gruppen. Wir haben wir Menschen, die mit den Möglichkeiten intersubjektiver Erfahrungen arbeiten, gefragt:


Griet Hellinckx, Pädagogin, Künstlerin und Mitglied in der Forschungsgruppe „Collective Presencing“.

Griet Hellinckx

Die Probleme unserer Zeit fordern uns heraus, neue Ansätze zu finden, um mit Komplexität sinnvoll und lösungsorientiert umzugehen. Ein Einzelner ist damit tendenziell überfordert. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass die momentanen wirklich innovativen und wegweisenden Veränderungen einer neuen Wir-Kultur entspringen.
Bewusstsein für globale und lokale Nöte und Lösungen, partizipative und ko-kreative Prozesse und Arbeitsformen sowie das Schaffen von Raum für Selbstorganisation sind dabei enorm hilfreich. Adäquate Verhaltensänderungen, Herangehensweisen und Strukturen können zeitnah entwickelt, erprobt und bei Bedarf angepasst werden. Machthierarchien und Fremdbestimmung hingegen erschweren die Bildung von solchen kreativen Wir-Feldern.
Es fällt vielen Menschen zunehmend leichter, einen transpersonalen Raum jenseits von Eigeninteressen und Befindlichkeiten im Miteinander zu erleben. Weltweit gibt es Gruppen, die sich in der Stille und im Dialog begegnen, Fragestellungen vertiefen und Anschluss an die Quellen kollektiver Weisheit suchen und finden. Wenn man sich auf ein achtsames Spüren und Lauschen einlässt, werden neue Horizonte und konkrete Ansätze sichtbar.
Was mir neu erscheint, ist, dass in dieser Wir-Kultur die Individualität nicht verschwindet, sondern im Gegenteil eine besondere Wertschätzung erfährt. Jeder Mensch verfügt über eine einmalige Perspektive, einen Erfahrungsschatz und individuelle Fähigkeiten und kann somit einen einzigartigen Beitrag leisten. Im Austausch und in der Zusammenarbeit steigern sich im Idealfall das Potenzial und die Kreativität des Einzelnen und tragen zum Wohl des großen Ganzen bei.
Je mehr die neue Wir-Kultur sich sowohl aus dem Anschluss an einen transpersonalen Raum wie aus der Wertschätzung für den individuellen Beitrag speist, um so wirkungsvoller und kohärenter werden die Veränderungen, die daraus entstehen, meines Erachtens sein können.

George Pór, Mitarbeiter an der London School of Economics und Gründer von CommunityIntelligence.


George Pór

Es ist Frühling und die Sämlinge durchbrechen die feste Erde, Sprossen strecken sich nach der Sonne. Mit derselben elementaren Kraft (und Zartheit) streckt sich das individuelle und kollektive menschliche Bewusstsein nach ewig-neuen Höhen. An der Spitze der neuesten Entwicklungsbewegung finden sich selbstorganisierte Zusammenschlüsse von autonomen Akteuren, die die Leidenschaft verbindet, Bewusstsein und Kultur – als sich selbst – zu entwickeln.
Wenn sich die Spirale der Entwicklung des Wir von einer egozentrischen, nur den Eigeninteressen verpflichteten, zu einer weltzentrischen Haltung des globalen Interesses wandelt – so wie es für viele Gruppen, die mit Wir-Räumen experimentieren, der Fall ist –, dann entstehen neue Verbindungen, systemische Wechselbeziehungen werden sichtbar und das Leben wird bedeutungsvoller. Die Evolution geschieht uns nicht mehr, sondern sie geschieht durch uns.
In dieser neuen Kultur werden wir unsere Verantwortlichkeit gegenüber der Gemeinschaft wertschätzen, wodurch aber unsere individuelle Autonomie nicht beeinträchtigt wird – das Wir wird der Garten, in dem unsere Individualität erblühen kann. Dank des Internets kann die neue Wir-Kultur Organe entwickeln, um kollektiv zu spüren und neue Sinndimensionen zu eröffnen. Die Verwirklichung dieses Potenzials ist unser nächster Schritt auf dem langen Weg zum Erwachen einer kollektiven Empfindungsfähigkeit der Menschheit: die Fähigkeit des Wir (wie groß es auch sein mag), für das Wohlbefinden und die Evolution des Ganzen und all seiner Teile Fürsorge zu empfinden und Verantwortung zu übernehmen.

Bonnitta Roy ist Gründerin des Alderlore Insight Center und Redakteurin der „Integral Review“.


Bonnitta Roy

Mehr als 2,5 Millionen Jahre lang lebten Menschen in auf Gleichheit beruhenden Clans, welche Tiere, Pflanzen, geologische und astrologische Einflüsse als „natürliche Personen“ mit einbezogen, d. h. als einen erweiterten Teil des „Wir“ betrachteten. Erst vor 7000 Jahren entstand die Zivilisation als ein Resultat von sozialer Abgrenzung, wobei sich das soziale Selbst symbolisch und konzeptuell von einer größeren planetarischen Ökologie abspaltete.
Das neue Wir, das heute entsteht, ist eine dritte Phase in der Evolution der Menschheit. Die Menschen werden die Dialektik zwischen dem Individuellen und dem Sozialen überwinden und nun als vollkommen individuierte Handelnde authentisch im Wir wirken. Synergistische Zusammenschlüsse entstehen in Form von Prozessen, die im Umfeld der Interessenten ihren Einfluss entfalten, Aufmerksamkeit erregen und Energie anziehen, woraus noch mehr Synergie kreiert wird. Jede Teilnahme an solchen Prozessen schafft neues Lernen, und so entsteht ein umfassendes Lernfeld. Geo-soziale Räume eröffnen neue Wege des menschlichen Zusammenseins und Technologien geben Anlass zu trans-humanistischen Träumen. Neue Wirtschaftsformen bieten vielfältige Möglichkeiten für Wechselseitigkeit und Austausch. Die natürliche Ökologie des Planeten wird von den unzähligen Wesen repräsentiert, die am Netz des Lebens und der geologischen Geschichte des Planeten teilhaben. In der Begegnung und dem Umgang mit nicht-menschlichem Leben erleben wir Vertrautheit und die Anwesenheit des Heiligen. Der neue Mensch wird wieder von der Welt verzaubert und in den einzigartigen Raum seiner Teilhabe am Leben verliebt sein, und dabei offen für eine universelle Verbundenheit.


Sabine Bartscherer, Architektin und Kursleiterin in der „Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck“.


Sabine Bartscherer

Das Neue kommt auch in Form von Gemeinschaft und darin wieder in dem, was im Deutschen vielleicht der „Gemeinschaftsgeist“ genannt wird oder – viel besser auf englisch - der „Holy Spirit“. Damit ist nicht eine gemeinsame Ausrichtung oder eine gemeinsame Unternehmung gemeint, es handelt sich vielmehr um ein mystisches Ereignis wie etwa das biblische Pfingsterlebnis. Alle sprechen „mit einer Zunge“, aus einem gemeinsamen Raum, in dem es nur eine Sprache gibt. Es ist ein konfliktfreier Raum, ein Raum der Einheit und des Sich-zutiefst-Verstehens. Heute – und das ist vielleicht neu – wissen wir (wieder), wie wir diesen „Geist“ einladen, wie wir ihm bewusst günstige Umstände verschaffen können. Das ist aber auch schon alles, denn er lässt sich weder kaufen noch machen. Er ist das Geschenk, das eine Gemeinschaft unter bestimmten Bedingungen „erfahren“ kann. Das Setting „Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck“ ist eine Möglichkeit, sich über Sprache und spontane Stille prozesshaft in diese Richtung zu entfalten: In ca. 16 Stunden bewegt sich eine Gruppe durch die Phasen Pseudo, Chaos und Leere in die Authentizität. Dabei versucht jeder, seine genuinen (Lebens-)Impulse zu erspüren und auf Reaktionen zu verzichten. Die Gruppe „macht sich gemeinsam leer“, um Raum zu schaffen und offen zu werden für den „Spirit“. Nach und nach entsteht eine Gruppenpräsenz, es wird sehr ehrlich und authentisch miteinander kommuniziert, der Geist kann kommen. Mit etwas Übung kommt die Gruppe ohne Leitung aus, sie wird eine „Group of all Leaders“, was für viele Gruppierungen neu, ja oft undenkbar ist. Wird Sprache als Ausdruck authentischen Seins benutzt, entsteht eine neue Dimension von Gemeinschaft.

Dr. Olen Gunnlaugson, Assistenzprofessor für „Leadership and Organizational Development“ an der Université Laval, Kanada.


Olen Gunnlaugson

Das Versprechen der Praxis von Wir-Räumen liegt in der kreativ verkörperten Erforschung von neu entstehenden Dimensionen im geteilten Bewusstsein. Intersubjektive Formen von Gemeinschaft, Organisation und Kommunikation im Sinne eines Miteinanders von Individuen gab es schon immer; von besonderem Interesse sind heute die neuen Ansätze, durch die die Grenzen und Räume von geteiltem Bewusstsein erforscht und integriert werden.
Wenn die Erforschung des gemeinsamen Raums an Intensität gewinnt, werden moderne Ideen, die Erwachen, Intelligenz, Kreativität und Weisheit als an eine einzelne Person gebundene Phänomene begreifen, herausgefordert. Denn es zeigt sich ein direkter Zugang zu neuen Formen der Wahrnehmung als kollektiver Prozess und den damit implizit neu entstehenden Dimensionen der tieferen Natur der Wirklichkeit und der Lebenswelten, die in diesem kollektiven Handeln möglich werden.
In diesem Sinn hat die Praxis von Wir-Räumen eine übergeordnete und verheißungsvolle Bedeutung, weil darin Einzelne und Gruppen Zugang zu verwandelten Formen von Sehen, Sein, Wissen und Beziehung finden, deren Präsenz und Möglichkeiten unbestreitbar sind.  

Author:
Griet Hellinckx
Author:
George Pór
Author:
Bonnitta Roy
Author:
Sabine Bartscherer
Author:
Olen Gunnlaugson
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