Eine existenzielle Lücke

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

January 24, 2022

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Ausgabe 33 / 2022
|
January 2022
Wir leben zwischen den Zeiten
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Resilient werden, wenn der Boden wankt

Im Angesicht überfordernder Bedrohungen sind Verleugnung und Vermeidung naheliegende psychologische Verteidigungsstrategien. Eine neue Denk­bewegung lädt hingegen explizit dazu ein, sich dem Unheilvollen ungeschützt zu stellen. Ist das ein verzweifelter Sprung in den Abgrund oder erwachsen hier vielleicht unerwartet neue Fähigkeiten, wie wir uns Krisen angemessener zuwenden können?

Die anhaltende Pandemie zermürbt und die deutlicher werdende Unumkehrbarkeit der Klimakrise schürt Ängste. Viele Menschen sind verunsichert, weil sie ahnen, dass unsere bisherige Lebensweise künftig nicht mehr trägt. Eine Studie zu den Zukunftsbildern der Deutschen, die ich für die Identity Foundation, eine gemeinnützige Stiftung für Philosophie, betreut habe, zeigt, wie diese Entwicklungen unser Vorstellungsvermögen übersteigen und zu Desorientierung führen. Für nicht Wenige ist Zukunft unter den Vorzeichen unserer Zeit ein Untergangsszenario mit Dürre, Hitze und Ressourcen-Kriegen. Wie ihr Leben dann aussehen könnte, möchten sie sich gar nicht vorstellen. Andere flüchten innerlich in eine heile Welt begrünter Fassaden und Windräder, die Technologie wird uns schon retten. Wie stark die kognitive Dissonanz ist, die viele erleben, illustriert die Aussage einer 39-jährigen Kölnerin, die im Tiefeninterview sagte: »Ich sehe mich in 40 Jahren noch in dieser Wohnung sitzen und wenn es jetzt immer heißer wird durch den Klimawandel, dann bleibe ich halt im Sommer mit der Klimaanlage zu Hause.« Die Menschen ahnen, dass etwas auf uns zukommt, das sich nicht fassen lässt. Viele fühlen sich hilflos, andere reagieren mit Leugnung. Eine wirkliche Annäherung an das, was geschieht, ist kaum möglich.

»Wir sind in einem Gebiet ohne Landkarte! Wir haben das Gefühl, dass wir uns auf wankendem Boden befinden«, sagt die Tiefenökologin Joanna Macy. Modelle menschlicher Entwicklung leben von der Annahme, dass die Welt, die wir kennen, fortbesteht. Doch wo das immer ungewisser wird, stellt sich die Frage, welche Fähigkeiten wir brauchen, um mit tiefgreifenden Erschütterungen unserer gewohnten Lebenszusammenhänge umgehen zu können. In Resonanz auf die Finanzkrise 2008 und verstärkt durch die Verschärfung der Klimakrise etabliert sich seit einigen Jahren eine bewusste Betrachtungsweise dieser Situation, die »Kollapsosophie«. Pablo Servigne and Raphaël Stevens, zwei ihrer Vordenker, erkunden in ihrem Buch »Another End of the World is Possible«, wie Menschen im Angesicht existenzieller Gefahr neue Formen der Widerstandsfähigkeit entwickeln können: »In der Ökologie beschreibt Resilienz die Fähigkeit von Systemen, Bedrohungen zu absorbieren und sich zu wandeln. Sie erholen sich, indem sie sich für die Möglichkeit öffnen, sich selbst zu transformieren.« Im Unterschied zu uns Menschen haben Systeme keinen Sinn für den Verlust, den sie in diesem Wandlungsprozess wahrscheinlich erfahren. Menschen hingegen neigen im Angesicht des Unvorstellbaren dazu, zu erstarren oder die Bedrohung so lange wie möglich auszublenden. Die Kollapsosophie fragt danach, wie wir uns aus diesem Zustand der Lähmung befreien können. »Es gibt keine vorgefertigten Rezepte. Alles muss erfunden werden«, sagen Servigne und Stevens.

¬ WIR HABEN KEINE SPRACHE, UM ÜBER ANGST, ZWEIFEL UND UNSICHERHEIT ZU SPRECHEN. ¬

Wo vieles nicht mehr trägt und einiges sogar bereits zusammenbricht, wirkt die Vorstellung von Selbstentwicklung eigenartig unterdimensioniert. Können wir den Blick ins Nichts wagen und es zulassen, noch nicht zu wissen, wer wir im Ringen mit extremen Herausforderungen werden? Mit dem Dark Mountain Projekt haben die britischen Journalisten Dougald Hine und Paul Kingsnorth 2009 eine Art Schattenarbeit ins Leben gerufen, die sich der Dunkelheit zuwendet, die verstörend ist. Und die Beziehungen stiftet, um sich dieser »Terra quasi-incognita« (Joachim Schellnhuber) gemeinschaftlich zu nähern. Dark Mountain ist eine durch Kunst und Erfahrungsräume getragene Initiative, die sich als »Brücke zwischen Welten« versteht. Unter ihrem Dach versuchen Denker, Autoren und bildende Künstler die oft verdrängten, aber von vielen gespürten Zumutungen der Gegenwarts-Krisen ansprechbar zu machen mit Festivals, regionalen Treffen und einer Buchreihe. Sie widmen sich Themen wie »Die Kunst des Trauerns und Feierns« und fragen »Wie finden wir unseren Weg nach Hause?«. »Wir haben keine Sprache, um über Angst, Zweifel und Unsicherheit zu sprechen«, sagt Dougald Hine. Das aktuelle Dark-Mountain-Journal »Abyss« zum Thema Raubbau etwa stellt sich der Frage: »Wie können wir menschlich bleiben, während so viel um uns herum zerstört wird?« Den künstlerischen Darstellungen gelingt es, unerträgliche Widersprüche in Erzählungen, Poesie, Bildern oder Symbolen zu halten. Fotografien von den riesigen Wunden, die der Bergbau in Landschaften reißt, konfrontieren mit dem menschengemachten ökologischen Desaster. Ihre teils moderne, fast grafische Ästhetik macht den blinden Technik-Optimismus sichtbar, in dessen Namen die Zerstörung stattfindet und der ein Teil unserer Identität ist. Sich diesen Bildern auszusetzen, erlaubt es vielleicht für Momente, anwesend zu bleiben, wo man am liebsten ausweichen würde. In dieser Verletzlichkeit zeigt sich, wer wir sind und woran wir sind. Und es wird deutlich, dass wir nicht wissen, wohin unsere Reise geht.

Die Erfahrung, die empfundene Verstörung mit anderen teilen zu können, ist für viele eine Befreiung. »Auf wundersame Weise gibt mir das Hoffnung über die übliche Hoffnung hinaus für das, was vor uns liegt«, sagt etwa Eric Utne, Gründer des Kulturmagazins Utne Reader. Die Kollapsosophie-Bewegung sucht nicht nach Auswegen. Sie bereitet mit gemeinschaftlichen Ritualen, Retreats oder Gesprächskreisen den Boden, erst einmal anzukommen und sich gemeinsam der Möglichkeit von Unheil innerlich zu stellen. Die Klimapsychologie erachtet diese Zeugenschaft als zutiefst notwendig, um resilient zu werden. Denn sich weiterzuentwickeln im Sinne eines Voranschreitens bedeutet auch, sich der Trauer um Verluste zu stellen und bewusst Abschied zu nehmen. Abschied auch von all den Teilen unserer Identität, die dazu beigetragen haben, dass der Boden unter unseren Füßen heute so viele Risse hat. Es ist kein einfacher Weg, so Pablo Servigne und Raphaël Stevens, doch es ist einer, der uns mit unserer Zukunft verbindet: »Die Antwort auf Angst ist Mut. Wir können nicht sicher sein, unversehrt durch diese Stürme zu kommen. Aber wir können auf ungewohnte Weise Bedeutung finden und so unsere Art, in der Welt zu sein, transformieren.«

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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