»Es schläft ein Lied in allen Dingen«

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Interview
Publiziert am:

November 7, 2019

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Ausgabe 24 / 2019:
|
November 2019
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Ein Interview mit dem Musiker und Klangtüftler Cosmo Sheldrake

»Es schläft ein Lied in allen Dingen«, mit diesen Zeilen des Dichters Eichendorff könnte man die Musik von Cosmo Sheldrake beschreiben. Der Sohn des Biologen Rupert Sheldrake, der dem Bewusstsein des Lebendigen forschend nachgeht, hat seinen eigenen Weg gefunden, diese Lebendigkeit hörbar zu machen. Klänge aus der Natur, urbanen Umgebungen oder von Materialen nimmt er auf und arbeitet sie mittels Sampling in seine elektronischen Kompositionen ein. So entsteht eine Musik, die aus der Klangfülle der Welt lebt, aber auch auf die Bedrohtheit der Natur hinweisen will.

evolve: Welches Interesse und welcher Impuls hat Sie zur Musik gebracht, und dann speziell zu der Art Musik, die Sie jetzt machen?

Cosmo Sheldrake: Ich bin in einer musikalischen Familie aufgewachsen. Mein Vater spielt Klavier und meine Mutter unterrichtet Gesang, einschließlich Mongolisches Obertonsingen. Ich spiele Klavier seit ich vier Jahre alt war, aber mit sechzehn hat es mich dann frustriert, dass ein Klavier so groß ist und man es nicht mitnehmen kann, und so habe ich nach anderen Wegen gesucht, mich auszudrücken. Die Musik hat sich für mich erweitert, als ich das Loop-Pedal für mich entdeckte und mit Improvisationen zu experimentieren und dem Aufnehmen von Tönen begann. Auf Reisen hatte ich dann immer ein kleines Aufnahmegerät dabei, um Geräusche und Töne aufzunehmen. Auf verschiedenen Reisen und Ausflügen führte ich ein akustisches Tagebuch und integrierte die Geräusche in meine Aufnahmen. Dann entdeckte ich die Geschichte des Sampling und die Musique Concrète. Diese Techniken habe ich dann bei meinen Produktionen verwendet. Es begann als Hobby, während ich Anthropologie studierte. Nach dem Examen hatte ich dann Zeit und Raum, um mehr daraus zu machen als ein Hobby.

Im Klangfeld

e: Gibt es einen bestimmten Punkt, an dem Ihnen klar wurde, dass all diese Geräusche aus der Natur, urbanen Umgebungen oder von verschiedenen Materialien auch zu Musik werden könnten?

CS: Mir war immer klar, dass die Geräusche, die ich aufnahm, ein musikalisches Potenzial haben, einen Charakter, eine Textur. Sie erzählen viel über einen Ort, eine Begegnung oder über die Zeit, in der man sie aufgenommen hat. Wenn man zum Beispiel das Geräusch aufnimmt, wenn etwas herunterfällt und zerbricht, kann man einen ganz eigenen Rhythmus daraus machen. Es fühlt sich an wie ein Prozess der Zusammenarbeit, ganz anders, als wenn man vor seinen Synthesizern im Studio sitzt. Es beginnt bereits mit so viel Charakter und Charisma, dann arbeitet man damit, formt es um oder fügt es in etwas anderes ein. Der Kompositionsprozess beginnt damit, einen Klang zu nehmen, ihn in einen neuen Kontext zu bringen, um ihn mit neuen Ohren zu hören.

Hinzu kommt, dass mein Vater und mein Bruder Biologen sind, in meiner Jugend verbrachte ich viel Zeit in der Natur und konnte dabei Vögel beobachten. Schon immer haben mich die Klänge der Natur fasziniert. Durch das Studium der Anthropologie habe ich die Sinneswahrnehmungen weiter erforscht und mein Interesse für die Atmosphäre von Orten entdeckt.

Meine Musik ist beeinflusst durch diese anthropologische Erforschung der Wahrnehmung und die Frage danach, wie wir mit unserer Umwelt in Wechselwirkung stehen. Klänge werden oft vernachlässigt, denn das Sehen wurde als Möglichkeit der Welterkenntnis oftmals privilegiert. Doch Forschungsfelder wie die Soundscape Ecology, welche die akustischen Beziehungen zwischen Menschen, anderen Lebewesen und ihrer Umgebung erforscht, machen allmählich immer deutlicher, wie wichtig Klänge sind.

Es geht eine Menge an Reichtum und Diversität von Klangwelten in der Natur verloren.

e: Haben Sie eine Methode für Ihre Wahrnehmung von Geräuschen entwickelt? Denn es ist ja eine bestimmte Fähigkeit, Klänge, Geräusche sowie ihre Beschaffenheit wahrzunehmen und zu spüren, wie sie sich als Kontext für eine bestimmte Musik verwenden lassen.

CS: Das kommt mit der Zeit und ist wie ein Muskel, den man trainieren kann. In letzter Zeit habe ich viel mit Vogelstimmen gearbeitet, und das hat die Art, wie ich Vogellaute wahrnehme, völlig verändert. Ich habe jetzt ein eigenes Ohr für sie, ich höre auf die Melodien, auf den Rhythmus ihrer Lieder, sie treten stärker in meine Wahrnehmung. Ich glaube, so ist das bei jeder Art der Wahrnehmung. Wenn du aufmerksamer wirst dafür, stellst du plötzlich fest, dass sie überall sind.

Die Soundscape Ecology zeigt uns, dass Klänge zunehmend wichtiger dafür werden, wie wir die Gesundheit eines Ökosystems, seiner Biodiversität wahrnehmen. Dabei werden alle Klänge auf einmal gehört, es wird nicht so sehr eine einzelne Spezies oder ein Klangmarker isoliert. Wir hören auf das ganze Ökosystem, wir fokussieren uns nicht auf einzelne Individuen in einem Klangfeld, sondern erweitern unser Hören, sodass es alles umfasst. Das war eine Offenbarung für mich! Man beginnt, die feinsten und komplexesten Stränge einer Kommunikation herauszuhören.

Auf Orte hören

e: Bei der Soundscape Ecology geht es darum, den Klang eines Ortes oder einer bestimmten Umgebung wahrzunehmen. Stehen Ihre Musikstücke ebenfalls in Verbindung mit bestimmten Orten?

CS: Ja, manche mehr, manche weniger. Mich hat immer Musik interessiert, die sich auf die Ökologie eines Gebietes einlässt. Zurzeit schreibe ich ein Stück für eine polyphone Mehrkanal-Performance in den Hackney Marshes. Darin verwende ich die Laute von gefährdeten britischen Vögeln. Ich habe mich eingehend mit den Vögeln, die in den Hackney Marshes leben, beschäftigt und dabei den Schwerpunkt auf die Arten gelegt, deren Population in den Marshes und im umliegenden Land zurückgeht. Die Grundidee des Stückes besteht darin, dass es sich aus der natürlichen Klangwelt dieser Gegend entwickelt, es greift Elemente des Klanges vor Ort auf, verarbeitet und sampelt sie. Und zwar so, dass die Musik nahtlos aus dem Hintergrund hervorgeht und sowohl eine Art Umweltstudie darstellt als auch einen Alarmruf, denn manche Klänge in diesem Ökosystem gehen verloren.

Einmal war ich allein campen in Devon. Ich wachte aus einem nachmittäglichen Nickerchen auf und hörte, wie über mir eine Feldlerche sang. Dann war irgendwo eine Kuh, die »Mmuuhh« machte, und das Wehen des Windes. Da kam mir plötzlich die Idee, daraus Musik zu machen, die sich allmählich aus der Landschaft heraus entwickelt. Ich habe damit experimentiert, als ich eine Zeit lang in Suffolk in einem Turm am Strand wohnte und Musik mit den Klängen meiner unmittelbaren Umgebung machte. Die Musik hat sich aus diesem Ort ergeben. Das ist ein Teil meiner Arbeit, aber in manchen Stücken auf meinem neuen Album begebe ich mich in einen imaginierten Raum, der Fantasie anregt.

e: Wie entwickeln Sie Ihre Stücke? Beginnt es mit einem bestimmten Geräusch, dann kommt etwas anderes dazu und es entwickelt sich wie ein innerer Dialog oder eine Antwort auf die Klänge? Ist das eher intuitiv oder folgen Sie einem Konzept?

CS: Das kommt wirklich ganz darauf an. Wenn ich live auftrete, improvisiere ich. Das ist für mich ein etwas anderer Prozess, als wenn ich komponiere, wenn ich alle Zeit der Welt habe. Das Spannende bei einem Live-Auftritt ist die Dynamik zwischen mir und den Zuhörenden. Ich kann nicht einfach abbrechen und das Stück immer wieder von Neuem anfangen. Ich muss Ja sagen und einfach weitergehen. Das ist ein Prozess, bei dem ich allmählich Schicht auf Schicht lege und so das Stück aufbaue. Dieser Prozess bringt mich ins Erforschen, führt mich an unerwartete Orte. Oft fängt es mit einem Geräusch an, du nimmst etwas, hackst es in Stücke und findest einen Rhythmus darin oder eine Idee. Es fühlt sich an wie eine Gemeinschaftsarbeit. Und wenn es dann einen Ausgangspunkt gibt, etwa eine kleine Klangschleife, dann höre ich, was als Nächstes kommen könnte, und reagiere auf diesen Klang. Gelegentlich beginne ich mit einem inneren Bild, einer Annäherung an das, was ich erforschen möchte, einer Struktur, einem Gefühl oder dem Versuch, Teile zu zerschneiden oder nebeneinander zu stellen.

Worte, die sich selber sagen

e: Als ein Element in Ihren Stücken setzen Sie auch Ihre Stimme ein – mit Improvisationen oder Texten. Wie ist Ihrer Erfahrung nach die Beziehung von Stimme und Gesang zu den Klängen, die Sie produzieren?

CS: Für mich bringt die Stimme am meisten Freiheit. Bis zum Alter von 13 Jahren habe ich Klavier gelernt und alles, was ich auf anderen Instrumenten zustande bringe, habe ich mir selbst beigebracht. Ich bin also oft frustriert, wenn ich ein Instrument spiele, weil ich an meine Grenzen stoße. Oft bringe ich das, was ich im Kopf habe, nicht nach draußen. Aber mit meiner Stimme, innerhalb ihrer Grenzen, geht das immer. Es ist einfach die leichteste Form, mich auszudrücken. Ich kann einen Einfall haben und bekomme ihn schneller aus dem Kopf heraus. Aber das führt einen eben immer auf bekannte Wege, und wenn ich Klänge verwende, komme ich bei etwas eher Unerwartetem heraus. Ich finde es befreiend, bei diesem Prozess mit der Stimme zu arbeiten, weil sie intimer ist. Die Membran zwischen dem unmittelbaren Impuls und der Ausführung ist durchlässiger. Es ist organischer und nicht durch einen technischen Prozess vermittelt.

e: Wie ist das für Sie, Texte zu schreiben oder mit Texten zu arbeiten? Sie haben ja auch Gedichte von William Blake verwendet. Welche Rolle spielt der Text bei Ihnen?

CS: Ich liebe die Lyrik von William Blake, diese visionär-mystische poetische Tradition, und habe damit angefangen, einige seiner Gedichte zu vertonen. Von da an habe ich dann begonnen, einfach Worte zu denken oder zu erforschen. »The Moss« war das erste Stück, für das ich den Text geschrieben habe. Ich fand Gefallen an Nonsens und an der Freiheit der Sprache, an dieser spielerischen Leichtigkeit. Das Texten ist für mich nicht leicht, weil ich mich nie als Autor betrachtet habe.

Ich habe auch gemerkt, dass das auch ein ziemlich geheimnisvoller Prozess ist. Wenn ich Melodien schreibe und aufnehme, brabble ich oft einfach irgendetwas darüber; auf einmal entstehen Bilder mitten aus dem Nonsens-Geplapper, und die nehme ich als Ausgangspunkt. Erst wenn das Stück fertig ist, ergibt sich seine wahre Bedeutung. Es landet einfach und sagt mir, was es bedeutet. Es fühlt sich gar nicht so an, als sei es von mir. Es ist fast ein bisschen wie automatisches Schreiben – es kommt heraus und sagt, was gesagt werden muss. Es gibt nicht diese brennenden Botschaften, die ich weitergeben muss, oder Gedanken, die ich aufgeschrieben habe. Es purzelt einfach so heraus und erst im Nachhinein gewinnt es eine Bedeutung für mich. Ich finde das wirklich geheimnisvoll, lustig, manchmal aber auch erschreckend.

Der Natur eine Stimme geben

e: In einem Video, das ich gesehen habe, sprechen Sie darüber, wie Sie Ihren musikalischen Schaffensprozess als Gemeinschaftsarbeit mit verschiedenen Spezies beschreiben. Haben Sie das Gefühl, dass Sie, wenn Sie Musik schaffen, mit der Natur zusammenarbeiten oder ko-kreativ sind?

CS: In vielen Situationen fühlt es sich so an. Kürzlich habe ich mit Nachtigallen »gesungen«. Ich spiele Musik, da ist eine Nachtigall mitten in der Nacht im Wald, eine weitere Nachtigall ist hinter mir und ich spiele andere Vogellaute ab. Ich kann auf die Klänge der Nachtigall antworten, und sie bemerkt meine Klänge und vielleicht antwortet sie in gewisser Weise auch darauf. Das fühlt sich nach Gemeinschaftswerk an, aber bei Archivaufnahmen ist das eher nicht so. Dabei ist es auch mit ihnen in gewisser Weise eine gemeinschaftliche Arbeit, denn man beginnt mit etwas, das einem nicht ganz gehört, und reagiert auf den kreativen Output von jemandem.

Ich hoffe, besonders in Bezug auf die neueren Stücke mit Lauten gefährdeter britischer Vögel, dass das Menschen ermuntert, intensiv zu lauschen und darin intensiver die Begegnung mit der mehr-als-menschlichen Welt zu spüren und mehr über diese schrumpfenden Vogelpopulationen nachzudenken. Irgendwie hoffe ich, dass meine Arbeit der Sache mancher dieser Geschöpfe dient.

Aber der Begriff Gemeinschaftswerk kann auch ein etwas heikles Framing sein. Es ist vielleicht etwas viel, von einer gemeinschaftlichen Arbeit mit anderen Spezies zu sprechen, aber es kann sich auf jeden Fall so anfühlen. Aber es gibt auch Fragen nach Zustimmung, Angemessenheit und Absicht, wenn man die Natur sampelt.

Ich kann grundsätzlich nicht anders, als alles als lebendig zu betrachten.

e: Verfolgen Sie mit Ihrer Musik auch die Absicht, die Menschen aufmerksam zu machen auf den Reichtum der Natur?

CS: Ja. Die Soundscape Ecology zeigt auf, dass Klänge eine sehr effektive Weise sein können, das Aussterben einer Spezies zu studieren. Nimmt man beispielsweise ein gesundes Ökosystem vor und nach einem gezielten Holzeinschlag auf und analysiert das Spektrogramm, kann man den Verlust an Biodiversität etwas deutlicher sehen und hören, als wenn man eine visuelle Studie erstellt. Geräusche können also tatsächlich dabei helfen, die Schädigung bestimmter Spezies oder die Gesundheit eines Ökosystems zu dokumentieren.

Und vielleicht ist es manchmal auch eher Aufgabe eines Künstlers, diese Geschichten zu erzählen und sie in Erfahrung zu überführen, statt nur auf Fakten und Zahlen zu schauen. Wenn man eine emotionale Begegnung mit etwas hat, gewinnt es für einen ja an Bedeutung. Ich möchte über die politische Sphäre, über die Umwelt-Narrative hinausgelangen hin zu einer einfachen Begegnung und Erfahrung, die dazu führt, dass man anders denkt und fühlt.

Im Wesentlichen geht eine Menge an Reichtum und Diversität von Klangwelten in der Natur verloren, während die Lärmverschmutzung durch die Menschen stark zunimmt. Wir fangen gerade an zu entdecken, welch wichtige Rolle Klänge für die Gesundheit der Natur spielen. Es gibt zum Beispiel akustische Instandsetzungsprojekte bei Korallenriffen in Indonesien. Da hat man herausgefunden, dass man, wenn man den Klang eines gesunden Korallenriffs in einem beschädigten Riff abspielt, pflanzenfressende Fische anlocken kann, sodass sie wiederkommen und beginnen, die Algen abzugrasen, die ansonsten die Riffe ersticken könnten.

Alles ist lebendig

e: Ich kenne auch die Arbeit Ihres Vaters Rupert Sheldrake zu einer veränderten Perspektive auf Natur und Biologie. Ist diese Perspektive von Bewusstsein, von Spiritualität, für Sie von Bedeutung?

CS: Ja, sehr sogar. Wenn man mit etwas aufgewachsen ist, wird es unsichtbar, es wird zum Teil des Blickes, wie man die Welt versteht. Ich kann grundsätzlich nicht anders, als alles als lebendig zu betrachten. Und das entdecke ich auch, wenn ich mit Naturgeräuschen arbeite. Wenn man beispielsweise Walgesänge hört, dann ist das nicht irgendeine Vokalisation, es sind unglaublich komplexe Strukturen. Es sind Lieder, die sich mit der Zeit verändern, die sozial erworben sind wie jede andere Sprache. Ich habe das Gefühl, ich arbeite in einer derart reichen Atmosphäre von Sinn und Klang. Wir verstehen das alles nicht unbedingt. Aber ich komme mir in gewisser Weise vor wie ein Animist, mir erscheint, dass die Natur lebendig ist und beständig spricht, immer voller Bedeutung. Deswegen betrachte ich Musik als eine Art Stimme, indem sie zu dem globalen Chor beiträgt, der in der ganzen Welt singt. Um uns herum ist ein größeres Gewebe von Sinn und Bedeutung, mit dem ich mich verbinden und an dem ich teilhaben kann, wie ein polyphoner Chor überall um uns herum. Wir haben die Wahl: Entweder wir mischen mehr oder weniger unbewusst menschlichen Lärm in diesen Chor, oder wir können zu dieser Ganzheit bewusst und konstruktiv beitragen.

Author:
Mike Kauschke
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