Warum die Poetisierung der Welt politisch ist
Tiefe Erfahrungen mit dem unbenennbaren Urgrund unseres Lebens werden oft mit religiösen oder spirituellen Begriffen beschrieben. Aber es gibt noch eine andere, wenn auch eng verwandte Spur, in der solche inneren Erlebnisse als die Quelle und der eigentliche Lebensraum des Poetischen verstanden werden. Und dieses Poetische kann uns vielleicht gerade heute als Lebenspraxis nicht nur persönlich, sondern auch ökologisch, sozial und politisch neue Möglichkeiten des Wahrnehmens und Handelns erschließen.
Als ich für diese Ausgabe von evolve im Rahmen unserer verschiedenen Rubriken mit unseren Interviewpartnern sprach, stellte ich am Ende meist noch die Frage, ob sie sich auch mit unserem Titelthema verbinden können, ob für sie in irgendeiner Weise das Heilige eine Rolle spielt. Ich war überrascht, dass beispielsweise die Tänzerin Kirstie Simson, der Zeichner Rafael Araujo oder der junge Lebenskünstler Pierre Lischke auf ihre eigene Weise sofort wussten, wovon ich spreche. Und mehr noch, als diese Sphäre des Erlebens zur Sprache kam, veränderten sich auch die Gesprächspartner, ihre Augen leuchteten und sie fühlten sich in etwas Essenziellem, Kostbarem angesprochen, das ihre schöpferischsten Momente betraf, in denen sie sich mit etwas Größerem verbunden und davon durchströmt fühlten. Und dadurch bekam auch das Gespräch eine besondere Atmosphäre, als würden wir uns in einem tiefen, intimen Erleben begegnen, das im Innersten aufscheint, aber gleichzeitig etwas ist, das uns alle verbindet.
Ewige Augenblicke
Interessant an diesen Gesprächen war auch, dass meine Interviewpartner sagten, dass sie solche Erfahrungen, in denen sie tiefe Lebendigkeit und einen sie übersteigenden Sinn erfuhren, nicht als »heilig« bezeichnen würden, sie aber sehr wohl so empfinden, dass sie darin eine Dimension des Mysteriums berühren. Und jeder von uns kennt wohl solche Erlebnisse, in denen wir uns von etwas Größerem angesprochen fühlen, wenn wir wie jetzt im Frühling die ersten Blumen sehen und uns im Geheimnis ihres schönen Erscheinens verlieren, oder wenn wir auf andere Weise in der Größe der Natur aufgehen, in der Majestät der Berge oder der Unendlichkeit des Meeres. Oder wenn wir ganz aus dem Inneren etwas in die Welt bringen und nicht so genau wissen, woher es kommt, sei es ein Wort, eine Idee, ein Kunstwerk oder ein nächster Schritt in unserem Leben. Oder wenn uns eine Begegnung mit einem anderen Menschen tief berührt mit der Empfindung, sich ganz tief, wie aus einer Dimension jenseits von Zeit und Raum zu kennen. Oder wenn wir ein Neugeborenes in den Armen halten oder einem Sterbenden die Hand halten und spüren, wie dieses Menschenleben in einem größeren Sein geborgen ist, und wir mit ihm. Oder wenn wir einem Tier in die Augen schauen und intuitiv wissen, dass wir Teil eines großen Lebens sind. Es ließen sich wohl noch unendlich viele solcher Erfahrungen andeuten. Und jedes Gespräch wird von diesem Klang des Geheimnisses berührt, wenn wir uns über solche kostbaren Momente austauschen oder unvermittelt gemeinsam einen solchen ewigen Augenblick erleben.
Solche Erlebnisse bringen uns in eine unmittelbare Begegnung mit dem Mysterium unseres Lebens. Was wir über die Welt zu wissen meinen, verblasst, und es öffnet sich ein unendlicher Raum der Wahrnehmung, des Staunens, der Ehrfurcht und der Verbundenheit. Solche Räume des Erlebens waren immer auch die Quelle der Poesie und einer poetischen Hinwendung zur Welt. An der Wirkung der Poesie hat mich immer fasziniert, dass sie nicht über etwas spricht – und sei es das Heilige –, sondern versucht, aus dem Mysterium selbst zu sprechen. Die Sprache so tief zu verwandeln, dass durch den Glanz der Worte selbst das Licht aufscheinen kann, das in allem wirkt. Und wenn ich ein Gedicht lese, begegne ich nicht nur den Worten und dem Dichter, der sie geschrieben hat, sondern auch dem Geheimnis, aus dem er schöpfen konnte. Das ist die dialogische Magie des Gedichts.
Aber Poesie geht doch auch weit über dieses Berührtsein beim Schreiben oder Lesen eines Gedichts hinaus. Man könnte das Poetische vielleicht auch als eine existenzielle Gestimmtheit und Wandlungskraft verstehen, die gerade in unserer heutigen Zeit vielleicht besonders relevant ist.
Eine poetische Gestimmtheit gibt unserem eigenen Erleben Unschuld, Tiefe, Ehrfurcht und Staunen.
Romantisieren der Welt
Solch ein umfassendes und transformatives Verständnis von Poesie begegnete mir zum ersten Mal bei den Dichtern und Denkern der Frühromantik, die als Alternative zum beginnenden Rationalismus und Materialismus im Zuge von Aufklärung und Französischer Revolution die Vision der »Romantisierung der Welt« ausrief. Dieses Romantisieren sollte die Erfahrungen des Geheimnisvollen, Unnennbaren und Verbindenden zur Grundlage unseres schöpferischen Umgangs mit der Welt machen: »Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es«, schrieb Friedrich von Hardenberg, der sich als Dichter Novalis nannte, »der Neuland Bestellende«. Das Neuland der Poesie, das die Frühromantiker vor Augen hatten, sollte die Lebens- und Erfahrungsbereiche des Menschen, die sich immer mehr zu trennen und auch zu fragmentieren begannen, neu zusammenführen: Fantasie und Verstand, Geist und Natur, Wissenschaft und Kunst, Körper und Seele, inneres Erleben und äußeres Handeln. Die frühen Romantiker waren keine Schwärmer, sie waren auch Denker, Philosophen, Wissenschaftler auf der Höhe ihrer Zeit – und ihr in vielem weit voraus. Sie waren geleitet von der Idee, dass alles Wissen oder rationale Erkennen nie getrennt sein sollte vom Geheimnis, dem Wunder des Lebens, vom Duft der blauen Blume, die Novalis als Symbol der Romantik ausrief. Sie waren auch nicht nur geniale Einzelgänger, für sie war das Ideal ein Sym-Poetisieren und Sym-Philosophieren, ein gemeinsames, dialogisches Poetisieren, das sie in ihrem Freundeskreis experimentell erprobten.
Dieses Dialogische in der Poesie begegnete mir auch kürzlich bei einem Dichter der Gegenwart. Als ich vor einiger Zeit an der Übersetzung eines Buches von David Whyte arbeitete, beeindruckte mich, wie er in Essays zu alltäglichen Worten im Grunde versucht, unserer ganz menschlichen Erfahrung die Tiefe des Geheimnisvollen und universell Bedeutungsvollen zurückzugeben, in dem, was er »the conversational nature of reality« (das dialogische Wesen der Wirklichkeit) nennt. Für ihn ist unser Leben ein einziger, vieldimensionaler Dialog mit dem Mysterium. Und bei ihm ist dieses Geheimnisvolle kein harmlos-beglückendes Gefühl, sondern gerade auch das Erschüttert-Werden von den großen, letzten Fragen des Daseins, wie Tod, Verlust, Trauer, Schmerz, Enttäuschung.
Ein poetischer Weltzugang ist auch deshalb heute so zukunftsweisend, weil wir es in der Welt mit so viel Gebrochenheit zu tun haben, mit Leiden und Krisen auf unterschiedlichsten Ebenen. Und wir merken, dass eine technische, rationale Weltsicht in vielem die Ursache dieser Krisen ist und dass Lösungen aus der gleichen rationalen Dimension zu kurz greifen. Deshalb könnte eine Neuverzauberung der Welt, die uns am Wunder des Lebens mitfühlend teilhaben und daraus handeln lässt, neue Möglichkeiten aufzeigen. Gerade auch, was einen achtsam-verbundenen Umgang mit der Natur betrifft, wie ihn der Biologe Andreas Weber beschreibt: »Unsere zutiefst empfindende und ausdrucksvolle poetische Existenz entfalten wir als ein fühlender Teil eines organischen Ganzen.«
Natürlich kann das Poetische gerade in einer postmodernen, in vielerlei Hinsicht selbstbezogenen Kultur auch zu einem verdrängenden Schwärmen werden, und selbst Texte von Dichtern, die zutiefst mit der Existenz gerungen haben, wie Rainer Maria Rilke, können als Poesiealbumtexte verstanden werden, die man mit gutem Gefühl auf Facebook teilt. Auch deshalb haben mich immer die Dichter besonders berührt, die gerade in ihrer Gebrochenheit und ihrem existenziellen Erschüttert-Sein die Tiefe des Menschseins berührten und vermochten, sie zum Ausdruck zu bringen, wie Georg Trakl, Else Lasker-Schüler oder Paul Celan. In der Gebrochenheit ihrer Dichtung und ihres Lebens rührten sie immer wieder kraftvoll an das Mysterium, das sich gerade dann zeigen kann, wenn unsere individuellen verstandesmäßigen Antworten ins Leere gehen.
Im Mysterium
Aber was sind eigentlich die Qualitäten des Poetischen, die für uns heute neu relevant sein könnten? Zunächst kann man vielleicht sagen, dass das eigentliche Lebensfeld des Poetischen das Geheimnis, das Mysterium ist. Eine poetische Gestimmtheit gibt unserem eigenen Erleben Unschuld, Tiefe, Ehrfurcht und Staunen, die uns so öffnen, dass wir mit einem neuen Blick uns selbst, die Anderen und die Welt betrachten können. Dem poetischen Blick kann alles zum Mysterium werden, wie es die Dichterin Rose Ausländer in einem Gedicht beschreibt: »Die Seele der Dinge/läßt mich ahnen/die Eigenheiten/unendlicher Welten. Beklommen/such ich das Antlitz/eines jeden Dings/und finde in jedem/ein Mysterium. Geheimnisse reden zu mir/eine lebendige Sprache. Ich höre das Herz des Himmels/pochen/in meinem Herzen.«
Um in Resonanz mit diesem Mysterium gehen zu können, um sich dialogisch der unbekannten, überraschenden Tiefe eines Menschen, eines Lebewesens, eines Ereignisses, der Natur, des Kosmos zu öffnen, ist ein einfühlsames Lauschen, eine Berührtheit und Verletzlichkeit notwendig, die David Whyte als »grundlegende, allgegenwärtige und beständige Unterströmung unseres natürlichen Zustands« bezeichnet.
Diese Empfindungstiefe eröffnet auch eine weitere Qualität des Poetischen, das Schöpferische und Kreative. Denn das Poetische sagt eigentlich, dass wir als Menschen nur dort unser wahres Potenzial leben, wo wir schöpferisch werden und im Verbunden-Sein und Ergriffen-Werden von der kreativen Lebendigkeit in uns an der Lebenskraft des Ganzen teilhaben und zu ihrem Ausdruck werden.
Im Zwischenraum der dialogischen Begegnung kann diese poetische Haltung zu einer Kraft der Verbundenheit und Heilung werden.
Zum Poetischen in einem umfassenden Sinn gehört aber auch, unsere gesellschaftliche, globale und soziale Wirklichkeit in diese Kreativität einzubeziehen. Hier kommt eine Haltung der Verantwortlichkeit hinzu, ganz im Sinne des englischen Wortes responseability, die Fähigkeit zu antworten. Denn ein wirklich poetisches Gefühl der Verbundenheit mit der Welt wird auch mein Handeln in dieser Welt verändern. In diesem Sinne ist eine Poetisierung der Welt nicht nur eine Veränderung der Gefühlslage oder eine schöne Stimmung, und es ist auch kein Abdriften in eine oberflächliche Sentimentalität, sondern bedeutet auch, mit intellektueller Klarheit die Welt und was in ihr geschieht zu betrachten und verstehen zu wollen – das Verstandene aber auch gleichzeitig zu spüren.
So kann das Poetische auch die Grundlage eines neuen Aktivismus sein, der sich nicht so sehr an Kampf und Gegnerschaft orientiert, sondern eher aus einem »stillen Aufstand« des verbundenen und berührten Herzens kommt, ein stilles, aber entschiedenes Wirken, dort wo wir sind, in der Vernetzung mit anderen. Eine Vernetzung, die oft in das poetische Bild des Myzelliums gebracht wird, des unterirdisch weit verzweigten Pilzgeflechts, das – geheimnisvoll – an einzelnen Stellen auftaucht und neue Ausdrucksformen seiner selbst hervorbringt.
Auf diese Weise ist das Poetische auch eine Grundlage einer Wir-Kultur, die aus der Verbundenheit, aus der Berührtheit des Lebens und der ko-kreativen Schöpfung neuer Möglichkeiten entsteht. Ein dialogischer Begegnungsraum, in dessen Mitte das Mysterium des Lebens sich zeigen kann und uns Quellen der Intuition, Weisheit und Intelligenz eröffnet, die uns allein im Individuellen und Rationalen nicht zugänglich wären.
Das Poetische in diesem Sinne ist nichts Passives, keine Abkehr von der Welt, sondern eine aktive Hinwendung zum Leben aus der Liebe zum Mysterium, das darin wirkt und uns anspricht. Die Frühromantiker sahen das Romantisieren nicht lediglich als eine Art schwärmerische Verklärung der Welt, sondern auch als einen Impuls, sie aus der Öffnung für dieses Geheimnis zu transformieren. So verstanden, ist die Dimension des Poetischen nicht nur etwas, das wir in der Tiefe der Welt finden, sondern das wir auch in die Welt schöpferisch hineinbringen.
Poetische Politik
Verletzlichkeit, Kreativität, Verantwortlichkeit, ein stiller Aktivismus und eine Offenheit für das Geheimnis des Lebens könnten Aspekte einer poetischen Kultur der Zukunft sein. Und das könnte besonders bedeutsam sein in einer Zeit, in der die Gräben zwischen Mensch und Natur und zwischen den Menschen immer größer zu werden scheinen.
Aber was soll so etwas Undeutliches wie die Poesie hier beizutragen haben? Jeder poetische Impuls beginnt zunächst mit dem Lauschen, mit dem Zuhören, dem verletzlichen Einfühlen, in dem ich mich auf das Andere oder den Anderen zumindest ein Stück weit einlasse, mich für das öffne, was mich anspricht – wozu auch manchmal das Verzweifeln am Anderssein des Anderen gehört. Immer wieder gab es politisch engagierte Menschen, die auch aus solch einer verbindenden Kraft des Poetischen schöpften, wie Václav Havel als Kritiker des Stalinismus, politischer Gefangener und später als tschechischer Staatspräsident oder Dag Hammarskjöld als UN-Generalsekretär.
Ein aktuelles Beispiel ist für mich der Autor Navid Kermani. Mich beeindruckte schon sein Buch »Ungläubiges Staunen«, in dem er sich mit einer poetischen Empathie dem Christentum und dessen Verbindungen zum Islam nähert. In seinem neuen Buch »Entlang der Gräben« schreibt er über eine Reise durch den Osten Europas, die ihn in der Begegnung mit Orten und Menschen viele seiner eigenen Überzeugungen hinterfragen lässt. Darin beschreibt er eine Szene in Schwerin, wo er mit den Mitarbeitern einer Sonntagsschule für Flüchtlinge spricht und eine Veranstaltung der AfD besucht. Und er ist berührt von der Tatsache, dass beide Seiten, mit denen er geredet hat, nicht miteinander sprechen. So werden die Gräben immer tiefer.
Dem poetischen Blick kann alles zum Mysterium werden.
Es mag naiv klingen, die Hoffnung auf Brücken über diese Gräben in der Poesie zu suchen, aber ich glaube doch, dass die poetische Offenheit für die Welt und das sie überall durchwirkende Mysterium auch den Raum öffnen kann, in dem es zumindest möglich sein könnte, einander zu hören. Und wer weiß, was dann möglich ist. Denn das Poetische ist auch gerade diese Offenheit für das Mögliche, Überraschende, das sich zeigen kann, wenn wir der Welt und dem Anderen neu begegnen. In diesem Zwischenraum der dialogischen Begegnung kann diese poetische Haltung zu einer Kraft der Verbundenheit und Heilung werden.
Beim Schreiben dieses Artikels kam mir die verrückte Idee, wie es denn wäre, wenn der Deutsche Bundestag jedes Jahr die ersten Sitzungen damit verbringen würde, dass jeder Abgeordnete, so wie die Interviewpartner, die ich eingangs erwähnt habe, von den kostbarsten Momenten spricht, wo sie etwas erfahren haben, das sie als geheimnisvoll, erfüllend, schöpferisch und zutiefst lebendig erlebt haben. Vielleicht würde sich überraschend Verbindendes zeigen und die tieferen Motivationen hinter der anderen Meinung klarer werden, und so auch das politische Diskutieren und Handeln poetischer werden.
Und solche poetisch-politischen Momente gibt es tatsächlich. So wie die laute Stille von Emma González. Die junge Mitorganisatorin des großen Marsches für strengere Waffengesetze in den USA im März stand sechs lange Minuten still vor den hunderttausend Protestierenden, präsent, aufrecht, zu Tränen gerührt. Zuvor hatte sie in einer Rede, die eher ein Gedicht war, ihrer 17 Mitschülerinnen und Mitschüler gedacht, die an ihrer Schule bei einem Amoklauf, der diese sechs Minuten gedauert hatte, ihr junges Leben verloren. Sie sprach von den flüchtigen und ganz einzigartigen Gesten, Eigenheiten und Worten, die ihr von ihren Freunden in Erinnerung geblieben sind, und dass sie diese »nie mehr« erleben werde. Für mich und wahrscheinlich jeden, der sich diese Rede anhörte, waren die anonym gezählten Opfer plötzlich wie lebendig anwesend und gleichzeitig war ihr Verlust so unendlich spürbar. In dieser poetischen Vergegenwärtigung und der lauten Stille, die ihr folgte, lag eine Transparenz, Stärke, Verletzlichkeit und Dringlichkeit, die wohl mehr bewegt hat, als viele Worte und Argumente.