Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 17, 2018
Neulich kaufte ich eine Personenwaage. In der 57-seitigen, mehrsprachigen Betriebsanleitung steht unter anderem, dass das Gerät nicht dafür bestimmt ist, von Personen (einschließlich Kindern) mit eingeschränkten Fähigkeiten oder mangelnder Erfahrung benutzt zu werden. Das Verpackungsmaterial soll wegen Erstickungsgefahr ebenfalls von Kindern ferngehalten werden. Diese Zeilen hatten für mich was Groteskes, denn ich las sie an dem Tag, an dem in Florida 17 Menschen bei einem Amoklauf in einer Schule ums Leben gekommen waren.
Eigentlich haben die Betriebsanleitung und die Tatwaffe bei dem Massaker nichts miteinander zu tun. Sie begegneten sich nur zufällig in meiner Gedanken- und Gefühlswelt. Beide können aber auch Anlass für tiefergehende Fragen und Beobachtungen sein. Mit der Warnung will der Hersteller sich absichern. Dahinter stehen Themen wie Verantwortung, Haftbarkeit und Schutz. Was für Gedanken, Emotionen, Argumente und Handlungen das Sturmgewehr, das in der Marjory Stoneman Douglas High School von einem Jugendlichen eingesetzt wurde, auslöst, lässt sich in den Medien seit Wochen verfolgen. Offensichtlich hat auch dieses mit Motiven wie Verantwortung und Sicherheit zu tun.
Der Zwischenraum ist ein Bereich, wo uns der feste Halt und die angeblichen Sicherheiten fehlen.
Durch das gleichzeitige Erleben und Sehen beider Gegebenheiten bekam ich Zugang zu einer Art Zwischenraum. Wenn wir eine Baumkrone im Winter sehen, gibt es nur kahle Äste, die in den Himmel ragen. Dazwischen ist scheinbar nichts. Aufgrund unserer Lebenserfahrung wissen wir, dass im Frühling dort wieder Laub wachsen wird. Solche Zwischenräume sind allgegenwärtig, aber oft sind wir uns dessen nicht bewusst. Wenn wir acht geben, spüren wir aber, wie die Atmosphäre in einem Hofladen sich von der in einem Discounter unterscheidet, in welchen Räumen wir uns wohlfühlen und wo Unsicherheit aufkommt. Wenn ich jemandem begegne, erlebe ich viel mehr als nur das, was ich sehe und höre. Oder wenn in Dialogrunden die Aufmerksamkeit auf das, was wir noch nicht wissen, und auf den Raum zwischen uns gelenkt wird, dann entsteht dort Neues, Ungeahntes. Die Fähigkeiten, die es braucht, um solche Zwischenräume wahrzunehmen, sind vermutlich allmählich gewachsen. Die Malerei hat sich beispielsweise im 20. Jahrhundert von der Darstellung des Gegenständlichen gelöst und verlangt dadurch vom Betrachter, dass er übt, den Qualitäten, der Ausdruckskraft und der Atmosphäre von Farben, Linien, Abständen und Formen nachzuspüren.
Wir werden täglich mit unglaublich vielen Informationen, Gedankenkonstrukten und Emotionen konfrontiert. Vieles erscheint so widersprüchlich, dass wir es kaum gedanklich oder gefühlsmäßig zugleich erfassen und (aus)halten können: Bombardierungen und Spendenaufrufe für die Opfer, Klima-Erwärmung und Werbung für SUVs, Dieselfahrverbote und Billigreisen, Glyphosat-Eklat und öffentliche Förderung für die Umstellung auf ökologischen Landbau. Was macht es mit uns, wenn wir fortwährend in diesen Zwischenraum der Widersprüche hineingeworfen werden?
Am Abend des Schulmassakers in Florida taten sich einige Schülerinnen und Schüler, die überlebt hatten, zusammen. Aktiv zu werden war ihre Antwort auf das erlittene Trauma und die Widersprüche, die sie in ihrer Gesellschaft wahrnehmen. Unter #neveragain fanden ihre Forderungen in wenigen Tagen weltweit Widerhall. Sie gaben Interviews, organisierten Märsche, hielten feurige und berührende Ansprachen und starteten einen Aufruf: Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer mögen landesweit einen Monat nach dem Geschehen für 17 Minuten die Schulen verlassen. Eine Minute für jedes Opfer.
In den Harry Potter-Büchern fährt der Zug zu dem Zauberinternat Hogwarts ab Gleis neundreiviertel. Als Harry zum ersten Mal in dem Londoner Bahnhof King’s Cross eintrifft und zwischen den Gleisen 9 und 10 nach dem angekündigten Zug Ausschau hält, fühlt er sich mit seinem Koffer und dem Käfig mit der weißen Eule ziemlich verloren. Keiner scheint um das Gleis neundreiviertel zu wissen. Zum Glück erklärt ihm schließlich eine Frau, die ihre vier Söhne zu dem Zug bringt, was zu tun ist.
Der Zwischenraum ist ein Bereich, wo uns der feste Halt und die angeblichen Sicherheiten fehlen. Wir scheinen auf verlorenem Posten. Aber vielleicht finden wir Gleis neundreiviertel und betreten wie Harry Potter eine andere Welt mit anderen Gesetzen und unerwarteten Möglichkeiten. Vielleicht fühlt sich die sogenannte »Generation Post-Columbine« dort schon mehr zuhause.