Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
April 17, 2018
Michael von Brück hat sich als Religionswissenschaftler, Yoga- und Zen-Lehrer eingehend mit dem Verständnis und der Erfahrung des Heiligen in verschiedenen Religionen befasst. Er ist davon überzeugt, dass eine neue Anerkennung dieser Tiefendimension von Mensch und Welt dringend notwendig ist, wenn wir als Menschheit überleben wollen.
evolve: Hat in der säkularen Gesellschaft, in der wir heute leben, das Heilige aus Ihrer Sicht noch eine Bedeutung?
Michael von Brück: Der Begriff der Säkularisierung ergibt sich aus politischen Entwicklungen in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Kirche wurde in ihrer Monopolstellung zur Religion und in ihrer Machtstellung in Bezug auf Güter, Institutionen, Bildungsinstitutionen ganz erheblich eingeschränkt. Aber Säkularisierung bedeutet noch nicht eine völlige Abkehr von der Religion, wie sie sich dann in Europa in einigen gesellschaftlichen Schichten im späten 19. Jahrhundert ereignet hat. Säkularisierung bedeutet also nicht zwangsläufig eine Abkehr von der Religion, sondern eher eine Abkehr vom Machtanspruch oder Deutungsanspruch einer einzigen Religion, die dann staatlich durchgesetzt werden müsste.
e: Wie würden Sie in solch einem säkularen Kontext das Heilige definieren?
MvB: Das Heilige ist zunächst in der biblischen Tradition eine Übersetzung des Wortes Kaddisch aus der hebräischen Bibel, die dann in die christliche Tradition eingeflossen ist. Es ist ein Begriff, der Anfang des 20. Jahrhunderts von dem Theologen und Religionswissenschaftler Rudolf Otto sehr stark geprägt worden ist. 1917 veröffentlichte er das Buch »Das Heilige«, darin erklärt er das Heilige als etwas, was jenseits der konkreten Religionen, jenseits des Dogmatischen aber auch jenseits des nur Ethischen eine entscheidende Rolle spielt. Für Otto setzt sich das Heilige zusammen aus dem Numinosen und dem Ethischen; das Numinose und das Ethische ergeben für ihn gemeinsam das Heilige.
Das Numinose ist das Unbegreifliche: Die Macht des Kosmos, die Macht der Naturkräfte, die den Menschen schlicht und einfach treffen, und »im gestirnten Himmel über mir«, wie Kant es formuliert, anwesend sind. Diese Macht kann ein blindes Schicksal verkörpern, das für den Menschen sowohl erfreulich als auch unerfreulich sein kann. Verbunden mit dem Ethischen, also mit der Aufforderung, dass der Mensch so handelt, dass dieses Handeln auch Leitlinie für das Handeln aller anderen sein könnte, sodass die gesellschaftliche Lebensform gefördert und nicht zerstört wird, ist dieses Numinosum für Otto das Heilige.
Wenn man es in diesem Sinne betrachtet, dann gibt es wohl keine Gesellschaft, in der das Heilige nicht in irgendeiner Form anwesend wäre, auch wenn es ganz verschiedene Ausdrucksformen annehmen kann. Die Tatsache, dass das Schicksal uns trifft, dass vieles im Leben nicht vorhersagbar und nicht rational berechenbar ist, kennen wir aus der eigenen Lebenserfahrung. Zudem wissen wir, dass diese Erfahrungen durch ethisches Handeln kanalisiert und gestaltet werden müssen, damit Menschen miteinander und mit ihrer Mitwelt zusammenleben können.
In jeder modernen Gesellschaft gibt es also diese Dimension des Heiligen, nur unter anderem Namen und nicht mit dem Absolutheitsanspruch einer einzigen Meinung.
e: Brauchen wir dann überhaupt noch den etwas verstaubten Begriff des Heiligen? Wir könnten auch einfach von Humanismus oder von Werten sprechen.
MvB: Das leicht Verstaubte hat manchmal auch seinen Vorteil. Es bringt eine Dimension zum Tragen, die nicht berechenbar ist – das ist der Sinn einer jeden religiösen Sprache. Natürlich können wir von Werten sprechen; Zeitungen und politische Sonntagsreden sind voll von solchen Begriffen. Viele Menschen erklären, dass sie religiöse Werte, die Werte des Abendlandes oder die europäischen Werte hochhalten wollen. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Um konkret werden zu können, ist ein Begriff, der auf das zuvor dargelegte Bedeutungsspektrum des Heiligen hinzielt, unverzichtbar.
e: Moderne Formen der Spiritualität geben sich bisweilen ganz bewusst säkular; sie definieren sich teilweise explizit als eine Art atheistische Spiritualität. Darin spielen Übungen wie Meditation, die bisher spirituell definiert waren, eine große Rolle. Manchmal beziehen sie sich dabei auf buddhistische Quellen, die sich auf Achtsamkeit, Gewahrsein und Rationalität konzentrieren und diese in ein naturwissenschaftliches Weltbild integrieren wollen. Findet hier aus Ihrer Sicht das Heilige eine Wertschätzung? Oder bedeutet dies doch eher eine gewisse Ausschließung des Numinosen?
MvB: Das kommt darauf an. Übe und praktiziere ich Achtsamkeit und nehme so Zusammenhänge in der Welt wirklich wahr, weil ich in einem anderen Bewusstseinszustand bin als dem zerstreuten, in dem wir normalerweise sind, dann berühre ich die Dimension des Heiligen. Achtsamkeit aber, die nur dazu da ist, um meine egoistischen Interessen gegenüber anderen Lebewesen zu behaupten, hat weder mit diesem Heiligen noch mit buddhistischer Achtsamkeitspraxis etwas zu tun. Vielfach wird heute diese Form von Achtsamkeit empfohlen und geübt; dies bedeutet aber lediglich eine effizientere Selbstausbeutung und Egozentriertheit des Menschen, die unsere Gesellschaft mehrheitlich pflegt.
Die Möglichkeiten der Welt und die Möglichkeiten des Menschen sind unendlich.
e: Aber eine effizienzorientierte Weltsicht oder eine berechnende Selbstsicht müssen nicht unbedingt selbstzentriert sein. Sie können durchaus auch human und humanistisch sein.
MvB: Das Problem ist ein Humanismus, der sich als ein Gegenüber zur Welt formuliert. Er gründet auf dem alten Weltbild, nach dem der Mensch das Maß aller Dinge sei. Über 2000 Jahre lang haben wir die biblische Tradition so verstanden, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei und sich alles andere untertan machen soll. Dieser Anthropozentrismus ist genau das, was die Welt und damit letztlich auch den Menschen selbst zerstört. Der Mensch, der sich nicht selbst als integralen Teil des Gesamtsystems des Universums und der Lebenswelt begreift, zerstört seine eigenen Lebensgrundlagen. Ein Humanismus in diesem Sinne ist keine Haltung, die aus der Achtsamkeit folgt, denn Achtsamkeit ist das Erfahren der Einheit allen Lebens.
e: Moderne Formen atheistischer Spiritualität stellen den Menschen nicht über die Schöpfung, sondern erklären wie die Hirnwissenschaft, dass die menschliche Subjektivität eine Illusion sei. Diese Spiritualität wird in ein naturwissenschaftliches Systemdenken integriert und Achtsamkeit im Prinzip als Teil dieses naturwissenschaftlichen Weltbezuges verstanden. Ist diese Spiritualität eine neue Möglichkeit für eine säkulare Welt?
MvB: Ganz sicher, denn diese Formen von Spiritualität verändern auch die Naturwissenschaften, die sich seit dem 19. Jahrhundert weiterentwickelt haben. Wir haben erst in der Physik und dann in der Biologie und Neurobiologie gelernt, dass der Mensch nicht einer von ihm getrennten Natur gegenübersteht und diese einfach objektiv, d. h. von außen, beschreiben kann. Der Mensch ist vielmehr selbst Teil des Systems, das er beschreibt.
Die Subjekt-Objekt-Spaltung, die wir in der Entwicklung der Wissenschaften seit dem 17. Jahrhundert gesehen haben, ist deshalb in modernen naturwissenschaftlichen Theoriebildungen so nicht mehr gegeben. Eine Theorie, die wir aus empirischen Daten ableiten, ist selbst der Rahmen, in dem wir wiederum Daten sammeln und beobachten. Die Theorie ist also ganz wichtig und sie hat sich in der wissenschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte stark verändert.
Der menschliche Geist beschreibt die Natur und ist selbst ein Teil von ihr. Deshalb ist eine Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften höchst problematisch und theoretisch nicht mehr haltbar. Das bedeutet auch, dass wir die Frage nach dem Ich, nach dem Ego oder der Selbstzentrierung sehr dynamisch beantworten müssen.
Natürlich gibt es in bestimmten Bewusstseinszuständen so etwas wie ein Ichbewusstsein und ein Ichgefühl. Aber im Zusammenhang mit diesem Selbstgefühl haben wir zum einen das theoretische Problem, dass wir nicht wissen, was dieses Ich eigentlich sein soll und wo es angesiedelt sein soll. Zum anderen haben wir die Erfahrung, dass sich in anderen Bewusstseinszuständen – etwa im Traum oder im Tiefschlaf, aber nun auch vermehrt empirisch belegt durch meditative Bewusstseinszustände – eine ganz andere Konfiguration von Ich und Umwelt, räumlicher und zeitlicher Maßgaben zeigt, als das im Tagesbewusstsein der Fall ist. Ist nun also nur dieser momentane rationale Bewusstseinszustand, in dem wir uns befinden, der maßgebliche? Sind alle anderen entweder weniger wichtig oder in irgendeiner Weise fehlerhaft? Zeigen sie uns nicht auch Aspekte der Welt? Oder ist es nicht vielmehr so, dass wir verschiedene Bewusstseinszustände erleben, in denen wir die Welt und unser Selbst unterschiedlich erfahren? Es gibt keinen rationalen Grund anzunehmen, dass uns nur der Bewusstseinszustand des Tagesbewusstseins gültige Erkenntnisse vermittelt.
e: Wie verhält sich nach Ihrer Ansicht das rationale Bewusstsein zum Staunen, zum Numinosen?
MvB: Für mich ist in diesem Zusammenhang der Begriff des Zufalls wichtig. Denn wir wissen nicht nur aus der Quantentheorie, sondern natürlich auch aus unserem alltäglichen Leben, dass der Zufall eine Rolle spielt. Wir können nicht alles vorhersagen oder berechnen. Berechnen können wir eigentlich nur Daten, die uns bekannt sind. Wir können Unbekannte einführen und in einer schwierigen Mathematik mit diesem Unberechenbaren selbst rechnen. Bringt man jedoch dieses Unberechenbare mit der Dimension des Heiligen zusammen, sieht man, dass der Zufall unsere Welt ganz wesentlich mitbestimmt. Am deutlichsten lässt sich das an der Quantentheorie zeigen, wo geradezu mathematisch darstellbar ist, dass die Ereignisse in der Welt nicht vorherbestimmt sind. Selbst wenn wir sämtliche Ausgangsbedingungen kennen, ergibt sich damit keine eindeutige und vorher festlegbare Folge der Dinge. Diesen Begriff des Zufalls hat man sehr lange als eine fast chaotische Welt interpretiert, ganz im Gegensatz zu einem Schöpfergott. Man hat also den Begriff des Zufalls eingeführt, um, vereinfacht gesagt, eine religiöse Dimension auszuklammern. Das ist natürlich höchst problematisch und hängt mit einer bestimmten Deutung des Zufalls zusammen. Nehmen wir nämlich den Sprachbegriff einmal ernst, dann heißt es: Es fällt etwas zu. Wie und warum es geschieht und ob es dafür verborgene Gründe gibt, ist damit nicht gesagt. Wir deuten innerhalb unserer Theorien von der Welt die Ereignisse als Zufall, aber das ist genau dieses Zufallende, das uns Zukommende aus einer anderen Dimension, aus einem anderen Zusammenhang, den wir nicht verstehen und nicht berechnen können. Und das bezeichnet Rudolf Otto als das Numinose.
Das Heilige oder das Numinose ist die Dimension, aus der Neues und Kreatives geschehen kann.
e: Inwiefern hat der Begriff des Heiligen für unsere moderne Gesellschaft eine Bedeutung? Und wie sollten wir diesen Begriff verwenden?
MvB: Ich halte ihn für handlungsleitend. Es muss aber nicht das Heilige sein. Ich kann es das Numinose nennen oder das Unberechenbare oder mit Rainer Maria Rilke das Offene. Es ist das, was nicht berechenbar ist, es ist das, was kreativ möglich ist. Und hier wird es spannend. Unsere Annahmen, wie sich die gegenwärtige Menschheit entwickeln kann – oder auch nicht entwickeln kann –, sind nicht die einzige Dimension, die sich in der Zukunft verwirklichen kann. Die Möglichkeiten der Welt und die Möglichkeiten des Menschen sind unendlich. Das Heilige oder das Numinose ist die Dimension, aus der Neues und Kreatives geschehen kann. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass dies nicht nur eine Theorie ist, sondern dass Menschen solche Erfahrungen machen. In der Meditation passiert genau das: Festgefahrene Denkstrukturen und festgefahrene Emotionen werden aufgelöst und das ganze Raum-Zeit-Empfinden löst sich auf. In der Meditation kann ich einen Schub von Kreativität und von Verschiebung des Raum-Zeit-Erlebens erfahren, die zutiefst beglückend oder irritierend sein können – das kommt auf die Situation und die Qualität der Meditation an. In diesem Rahmen ergeben sich eine neue Sicht und eine neue Bewertung der Welt und in der Folge auch neue Handlungsmöglichkeiten.
Wenn wir den Menschen nur so betrachten, wie er heute oft handelt, nämlich als ein egozentrisches, machtversessenes Wesen, das nur bestrebt ist, sich durchzusetzen, dann hat die Menschheit keine Chance zu überleben. Wenn wir so weitermachen wie jetzt, mit den psychosozialen Mustern, mit denen wir handeln, argumentieren und die Erde zerstören, haben wir keine Chance, die nächsten hundert Jahre zu überleben – eine ganz pessimistische Sicht auf die Zukunft!
Wenn wir aber die Dimension des Heiligen, des Numinosen, des Kreativen im alltäglichen Handeln als grundlegende Dimension des Menschen erleben – nicht nur für Sonntagspredigten und Meditationszentren, sondern im konkreten Leben –, dann besteht die Chance, dass der Mensch sich weiterentwickeln kann. In diese heilige Dimension kann er, wenn er seinen Geist kultiviert, beständig eintauchen und aus der Inspiration, also Be-Geistung, schöpfen. Dann können wir die Qualitäten des Mitgefühls und der Liebe nicht als etwas emotional Schwaches erleben, sondern als die Grundeinsicht in das Wesen der Wirklichkeit, aus der wir entsprechend handeln. So können wir sowohl unser individuelles Leben als auch unser gesellschaftliches Leben anders gestalten und haben eine Chance, die Evolution weiter zu entfalten.
Das Gespräch führte Thomas Steininger.