Herzenskraft

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Essay
Publiziert am:

October 29, 2014

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Ausgabe 04 / 2014:
|
October 2014
Führung neu denken
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Der Weg zum Wesentlichen

Führung beginnt mit Selbstführung, die immer auch ein Anliegen spiritueller Praxis war. Der Zen-Meister Hennrik Polenski über eine Geisteshaltung, in der inneres Üben und Gestalten der Welt einswerden.

Führung, und damit ist hier in erster Linie Selbstführung gemeint, besteht aus Klarheit, Mut und Menschlichkeit. Betrachten wir das deutsche Wort „Führungskraft“, dann stellen
wir fest, dass es drei Aspekte beinhaltet: Führung, Kraft und die zu führenden Menschen, das Team. Führung setzt Klarheit, Vision und Orientierung voraus. Kraft bedeutet Meisterung der Selbstführung, Mut und Energie, um diese Klarheit, Orientierung und Vision zu initiieren und zu multiplizieren. Der Umgang mit Menschen fordert den Aspekt der Menschlichkeit.
Um führen zu können, braucht es an erster Stelle Klarheit. Bin ich selbst klar, bin ich in meiner Mitte. Dann erst kann aus dieser Klarheit durch Achtsamkeit, Wahrnehmung und Offenheit eine Orientierung entstehen. Verfüge ich über die Offenheit der Intelligenz
des Herzens, der Herzgeist-Ebene, dann eröffnet sich mir schlagartig das Potenzial der Gegenwart. Eine Vision entsteht. Ich meine jetzt nicht die „großen Ziele“. Es geht nicht um die Vision, ein Computer-Imperium zu schaffen oder vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden. Es geht um die leise klingende Vision des Herzens. Es geht um Harmonie und Ausgeglichenheit, um Freude und Freundschaft auch innerhalb des Arbeitslebens.
Das kann zum Beispiel in der Form geschehen, dass ich eine bestimmte Herausforderung klar vor mir sehe und gleichzeitig auch die Lösung dafür. Die Verwirklichung einer solchen Vision entsteht in vollkommener Offenheit. Doch bevor es an die Umsetzung geht, erscheint das Ich, das Ego, auf der Bühne. Und das Ich mit seiner Bedürftigkeit und Bedingtheit vernebelt meine Vision. Das Potenzial der Gegenwart geht verloren und damit auch die
der Vision innewohnende Kraft. Jetzt zeigen sich vielmehr der Wille und die Verblendung des Menschen. Egoistische Menschen mit großen Zielen sind durchaus in der Lage, zahlreiche Menschen zu begeistern, zu motivieren und zu bewegen, auch wenn diese erkennen, dass das Ziel egogebunden ist. Aber am Ende des Tages wird der Egoist „die Toten zählen“ und auf die Zerstörung zurückblicken, die auf seinem Weg der Umsetzung entstand, und wird das billigend in Kauf nehmen. „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“, heißt es dann. Menschen mit echter Vision werden an Menschlichkeit, Nachhaltigkeit und Wohlfahrt für alle gemessen. Dabei geht es nicht um Quantität, es geht immer um Qualität. Ein Grundschullehrer „sieht“ zum Beispiel in einer Schülerin deren Potenzial. Er hilft ihr durch persönlichen Einsatz und Hartnäckigkeit, gegen den Willen der Eltern ihr Abitur zu machen. Der Lehrer sieht im Gegensatz zu den Eltern das Potenzial, etwas Besonderes, in ihr. Er sieht etwas, das er nicht
genau beschreiben kann, spürt es auch mehr, als dass er es konkret fassen kann. Später wird aus diesem Mädchen eine brillante Wissenschaftlerin, die ihren Beruf als Berufung lebt. Der Lehrer konnte nicht voraussehen, was aus der Schülerin werden würde, wohl aber sah und spürte er einen Weg, und dafür setzte er sich ein.

Führung, die nicht dem Menschen dient, ist getarnte Egomanie und pathologische Bedürftigkeit.


Der zweite Aspekt des Wortes „Führungskraft“ ist Kraft. Kraft meint an erster Stelle Vitalität, Lebensenergie, das energetische Grundaggregat des Menschen. Das ist die Kraft, die notwendig ist, um mich selbst zu besiegen und das Unheilsame in mir zu überwinden. Kraft, um überhaupt einen Weg zu gehen, ohne mich in Befangenheit, Bedürftigkeit und Nebensächlichkeiten zu verstricken. In dem Begriff „Kraft“ steckt auch die Schaffenskraft. Das ist die Energie, die ich brauche, um dorthin zu gehen, wo noch niemand war, um das Unbekannte zu erforschen, Visionen, Ideen und neue Welten zu kreieren. Dann ist da noch die Kraft im Sinne von Energie. Das ist die Energie, die nötig ist, um anderen zu helfen, andere zu begeistern, andere mitzunehmen. Das ist die Energie des Wachstums, die die Entwicklung und das Potenzial in anderen öffnet. Deshalb ist es gerade zu Beginn des Weges wichtig, diese innere Energie zu checken. Die Kraftmitte muss vorhanden sein.
Der dritte Bestandteil des Begriffs „Führungskraft“ bezieht sich auf die zu führenden Menschen. Ein Mensch, der sich selbst führen kann, braucht nicht zwingend ein Podium und Menschen, die er führt – im Gegenteil. Aber wenn er dienen und seine Orientierung weitergeben will, werden Menschen ihm von selbst folgen. Aus Verantwortung, Mitgefühl und dem Wunsch, der Gemeinschaft zu dienen, entsteht eine natürliche Führung. Hier verbindet sich das Führen von Menschen mit Menschlichkeit. Führung, die nicht dem
Menschen und der Menschlichkeit dient, ist getarnte Egomanie und pathologische Bedürftigkeit. Sie führt zu Leid und Zerstörung. Sie ist zum Nachteil aller und bringt letztlich auch unendliches Leiden für den Führenden selbst. Menschlichkeit ist der Weg, Leiden zu vermindern. Unmenschlichkeit ist der Weg, Leiden für sich und andere zu verstärken. Sich entwickelnde Stärke und Klarheit bedeutet immer auch, den Menschen zu dienen. Das bedeutet, Menschlichkeit als Güte, Mitgefühl und Milde, aber auch Klarheit, Weisheit und Mut zu verinnerlichen. Mein Weg als Mensch steht vor dem Weg der Menschen um mich herum und mündet in unseren Weg als Menschheit. Worum geht es also? Es geht um Selbstführung, es geht um Qualität. Bleiben wir zunächst bei dem Begriff der Selbstführung.
Gemeint ist die Fähigkeit, die eigene Intuition zu schulen, eine eigene innere Ausrichtung zu finden. Der Weg dahin führt über das Erforschen und Sichtbarmachen des Wesentlichen in uns. Damit entdecken und verändern wir auch das Wesentliche um uns herum.
Dieses Sichtbarmachen und Erforschen (zum Beispiel in der Zen-Meditation) entwickelt sich mit der Zeit zu einem inneren Weg, der sich nicht an intellektuellen Maßstäben orientiert, nach dem sich aber später alles ausrichtet. Es entsteht fast automatisch eine innere Ausrichtung auf das Wesentliche. Selbstentwicklung steht vor Selbstführung. Erst die Selbstentwicklung führt zu Selbstführung. Sie bezieht in stärkerem Maße die geistige Entwicklung − früher die mentale Einstellung − zur jeweiligen Herausforderung ein. Dieses mentale Training, das Sichtbarmachen und Erforschen entwickelt sich wie schon gesagt zu einem inneren Weg, zu einer inneren Ausrichtung auf das Wesentliche. Diese Ausrichtung geht einher mit der Entwicklung der Selbstführung.
Das Leben an sich ist ein großartiger Weg. Wenn wir erkennen, dass wir mit diesem Leben und mit dem, was außen entsteht, mitwachsen, entsteht irgendwann der große Weg. Diesen Weg, einen nicht vorgefassten Weg zu beschreiten, bedeutet strenge Disziplin ohne Richtlinien, heißt Training und Vorwärtsschreiten, heißt Praxis jenseits von Meinungen und Vorstellungen, jenseits von blendendem Nichtwissen und scheinbar sicherem Wissen. Erforderlich sind also nicht Theorie oder Wissen, sondern Praxis, Disziplin und Training. Und dann beginnt der Aufbruch zu einem nur manchmal in der Ferne sichtbaren Gipfel, zu einer Forschungsreise ins Unbekannte, zu mir Selbst und zum großartigen Wesen in jedem von uns.

Author:
Hinnerk Polenski
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