Ich-Sinn und Begegnung

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 23, 2015

Featuring:
Joseph Beuys
Rudolf Steiner
Prof. Shelley Sacks
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 06 / 2015:
|
April 2015
Wir-Räume
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Über die Arbeit an der Sozialen Plastik

Shelley Sacks arbeitet an der Anwendung und Weiterentwicklung des von Joseph Beuys begründeten Ansatzes der Sozialen Plastik. Wir sprachen mit der Leiterin des Forschungszentrums zur Sozialen Plastik an der Oxford Brookes University über ihre Erfahrungen mit dem Raum, den wir zwischen uns formen können.

evolve: Wie würden Sie die Arbeit an der Sozialen Plastik beschreiben?

Shelley Sacks: Joseph Beuys bezeichnete die Soziale Plastik als die Arbeit mit den unsichtbaren Materialien von Sprache, Dialog und Denken. Beuys experimentierte mit dieser Idee in Werken wie der „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ auf der Documenta 6 im Jahre 1977, eine Installation, die während der 100 Tage dauernden Documenta ständige Dialoge und Gespräche umfasste. Ich konnte an 90 Tagen teilnehmen, und versuchte zu verstehen, wie die Installation und die Gespräche zusammenhingen. Offensichtlich waren die Gespräche und die daran beteiligten Menschen ein integraler Teil der Arbeit: Es war ein ganzheitlicher Prozess. Aber meine Erfahrung während dieser Aktion ließ in mir viele Fragen aufkommen: Was ist der Unterschied zwischen diesen Gesprächen und dem, was sonst in öffentlichen Foren und Diskussionsrunden geschieht? Wie kommen Menschen zu neuen Wahrnehmungen und einem neuen Bewusstsein, wenn wir uns als isolierte Selbstidentitäten treffen, die sich ständig gegen andere verteidigen? Wie können wir in eine Situation eintreten und sie wahrnehmen, wenn wir in vorgebildeten Ideen gefangen sind?

e: Eine neue Form des Dialoges erfordert also eine Wandlung unseres Bewusstseins?

ShS: Ja, im Grunde geht es um einen Paradigmenwechsel, aber nicht nur im Bereich der Ideen! Dialoge zu führen, in denen wir zu neuen Einsichten kommen, erfordert auch eine tief greifende Transformation in unserer Erfahrung von uns selbst, wie wir uns in Situationen einbringen und uns in der Beziehung zu „anderen“ erfahren. Wenn wir ein fragmentiertes, aufgeblähtes oder isoliertes Selbstgefühl haben, können wir einander nicht wirklich begegnen. Wir können uns auch nicht wirklich den anstehenden Fragen oder der notwendigen Arbeit widmen. Was uns behindert, sind all diese Formen der Zurückhaltung, der Anspannung, diese Zweifel und Ängste, alles, was uns einengt und uns davon abhält, zuzuhören und aufzunehmen. In den 1970er Jahren arbeitete ich in Südafrika mit vielen verschiedenen Gruppen – Banden, Lehrern, Jugendlichen und Organisationen. Bald entdeckte ich, dass diese Arbeit unabhängig vom spezifischen Fokus von dem behindert wurde, was im inneren Feld der Einzelnen geschah: den festen und unbewussten Sichtweisen und anderen einengenden Annahmen und Ängsten.
Als ich Beuys von dieser Arbeit erzählte, war er sehr interessiert, sagte aber: „Du vergisst etwas sehr Wichtiges, du bist Künstlerin und solltest nicht die Rolle der Vorstellungskraft vergessen.“ Er konnte es nicht näher erklären und ich war verwirrt. Es wurde zu einer weiteren Frage, die mich begleitete. Durch viele praktische Experimente entdeckte ich, dass die Vorstellungskraft eine andere Form des Denkens eröffnet. Goethe beschreibt es als eine intuitive Form des Denkens. Paul Klee und Beuys nannten es „bildhaftes Denken“ und James Hillman bezeichnet es als „imaginatives Denken“. Wenn wir in diesem imaginativen Modus mit anderen zusammenkommen, erkennen wir nicht nur, was und wie wir sehen, und was und wie wir hören, wir können uns auch tiefer mit anderen verbinden. Daraus entwickelt sich eine wahre Empathie. Weil wir nicht mehr in unseren logischen Geschichten, Annahmen und Spekulationen gefangen sind, können wir der Realität der Situation näher kommen. Unser Denken bleibt mit der Wahrnehmung verbunden, selbst wenn es eine innere Wahrnehmung ist. Deshalb habe ich „verbindende Praktiken“ entwickelt, in denen wir dieses imaginative Denken lernen können.

Alles, was unser Sein belebt, ist ein ästhetischer Prozess.

e: Können Sie näher erläutern, was Sie mit verbindenden Praktiken meinen?

ShS: Es ist wichtig, den Begriff der „Ästhetik“ aus dem begrenzten Gebrauch in der Kunstwelt zu befreien. Wenn wir Ästhetik als das Gegenteil von Anästhesie und Dumpfheit verstehen, dann ist alles, was unser Sein belebt, ein ästhetischer Prozess.
In der verbindenden Praxis arbeite ich mit „Instrumenten des Bewusstseins“. In meiner sozialen Skulptur „Exchange Values: Images of Invisible Lives“ schuf ich zum Beispiel ein Erfahrungsfeld, in dem sich die Menschen sowohl Aspekten der Weltwirtschaft als auch sich selbst bewusst wurden. Ich hatte Bananenschalen aus Kisten gesammelt, auf denen eine Produzentennummer stand. Ich trocknete die Schalen und nähte sie zusammen, sodass eine Haut entstand. Im Rahmen des Projektes flog ich in die Karibik und versuchte, anhand der Nummern auf den Kisten die Produzenten zu finden. Ich wollte sie einladen, über ihr Leben zu sprechen, und dann die Stimme des Produzenten mit der Installation „seiner“ Bananenschalen verbinden. Zunächst waren die meisten Bauern misstrauisch. Aber als ich ihnen ein kleines Stück der zusammengenähten schwarzen Bananenschalen zeigte, veränderte sich alles. Einer der Bauern, ein alter Mann, der zunächst sehr skeptisch war, hielt das Stück an seine Haut und sagte: „Ja, nun verstehe ich. Es hat sogar die gleiche Farbe wie meine Haut. Nun möchte ich sprechen.“ Plötzlich hatte sich seine Beziehung zu mir und meinem neugierigen Besuch verändert. Ich spürte, dass er die Situation vollkommen anders wahrnahm. Da verstand ich, was Beuys meinte, als er sagte, ich sollte die Rolle der Vorstellungskraft nicht vergessen. Ich konnte sehen, dass es möglich ist, durch eine bildnerische Form in eine andere Bewusstseinsform einzutreten – man könnte es vielleicht sogar als einen anderen Teil des Geistes bezeichnen.

e: Und Sie untersuchen diese Bewusstseinsform auch im Dialog?

ShS: Im Zusammenhang mit der Installation der 20 Arbeiten aus Bananenschalen und den Stimmen der Bauern, die sie angebaut und geerntet haben, organisierte ich regelmäßige Gesprächsforen. Die Besucher wurden in die Präsenz des gegenwärtigen Augenblicks geworfen und kamen in ihre eigenen Wahrnehmungen und Gefühle und ihre Beziehung zur globalen Wirtschaft. Nach elf Jahren ersetzte ich die Bananenschalen auf dem Boden mit einem fünf Meter großen Tisch. Nun kamen die Menschen auch in den Raum, wenn kein Forum organisiert wurde, setzten sich irgendwann an den Tisch und erkannten sofort, dass sie ein Teil der Weltwirtschaft waren. Dazu entwarf ich einen Dialogprozess. Zu Beginn machte ich die Teilnehmer mit ihrem inneren „mietfreien“ Raum bekannt und dem darin möglichen Sehen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem bildhaften Modus erforschten sie drei Fragen: In welchem Sinne bin ich ein Künstler? Was produziere ich? Und was unterstützt oder behindert meinen Beitrag? Durch diesen Prozess konnten sich die Teilnehmer der Weltwirtschaft viel mehr annähern und sahen, wie sie in der Welt leben und darin handeln. In diesem Prozess entsteht eine Art Meta-Raum, in dem wir uns selbst sehen können, aber nicht nur in abstrakter Weise.

e: Wie hat diese Belebung der Vorstellungskraft die Gespräche verändert?

ShS: Am Ende des Prozesses beschrieben die Teilnehmer, dass sie nicht nur überrascht waren, was sie über ihr Leben herausgefunden hatten, sondern auch über die Intensität, Intimität und die Qualität des Zuhörens. Viele sagten, sie fühlten sich gehört und hatten deshalb das Gefühl, dass es mehr Raum gab, um Unterschiede zuzulassen. Es entstand ein Raum, in dem die Menschen zu sich selbst kommen konnten und eine Wirklichkeit sinnlich wahrnahmen, die vorher entfernt und abstrakt gewesen war. Das Hören auf die Erfahrung jedes Einzelnen ohne Urteile und in diesem lebendigen Kontext führte zu einem Sammeln von Bildern, Wahrnehmungen und Erfahrungen in der Mitte, woraus eine Art neue Substanz entstand. Und alle erlebten es. Eine Frau beschrieb es als ein Lichtfeld, an dem alle teilhatten und in dem alle mit vollkommener Aufmerksamkeit zusammen dachten.

e: Was ist die Voraussetzung für solch einen Prozess? Und wie würden Sie diese Substanz beschreiben, die sich zwischen Menschen bilden kann?

ShS: Es beginnt mit unserer Freiheit. Ich sage oft: „Soziale Plastik ist die Philosophie, das Verstehen und die Praxis der Freiheit.“ Wenn wir frei entscheiden und da sein wollen, verändert sich auch die Qualität der sozialen Substanz, die entstehen kann. Gedanken sind Kräfte, die wir erfahren. Und wir können Situationen schaffen, in denen wir uns unserer Gedanken bewusst werden. Wenn wir mit unserer eigenen Erfahrung verbunden bleiben, aktiv zuhören und Urteile vermeiden und uns nicht von Zustimmung oder Ablehnungen ablenken lassen, wird etwas Neues möglich. Das offene Zuhören und Teilen schafft eine Substanz, die mehr ist als die Summe der Teile. Es ist mehr als die Summe der individuellen Beiträge. Besonders interessant dabei finde ich, dass beim Sammeln dieser geteilten Substanz das Individuum nicht negiert wird oder verloren geht. Aber es ist auch eine gemeinsame Kraftquelle, auf die man sich im nachfolgenden Gespräch beziehen kann.
Die Erfahrung des Schaffens solch einer Substanz, egal wie komplex sie sein mag, lässt eine Gemeinschaft der Fragenden entstehen. Diese Gemeinschaft kann verschiedene Positionen untersuchen, ohne sich zu verstecken, weil der Raum offen ist, sie in ihrer Wahrnehmung zu empfangen. Daraus entstehen Großzügigkeit und Offenheit füreinander.
Aber die wichtigste Erfahrung ist, dass wir zunächst im inneren Atelier arbeiten, wo wir innere und äußere Formen schaffen können. Dabei nutzen wir die unsichtbaren Materialien von Sprache, Imagination und Denken. Wir können wie ein Bildhauer mit diesen Materialien arbeiten. In der Bildung neuer Gedankenformen und neuer sozialer Formen ist jeder ein Künstler, wie Beuys sagte.
Obwohl es also keine Voraussetzungen gibt und jeder daran teilnehmen kann, geht es nicht einfach darum, sich einer Ebene der „kollektiven Intelligenz“ zu öffnen. Es ist nichts, in das wir uns einfach einschwingen können. Wir müssen in sorgfältiger innerer Arbeit neue Fähigkeiten entwickeln! Dazu gehören das Stärken des „Willens zur Begegnung“ und die Praxis des „schöpferischen Zuhörens“. Darüber hinaus müssen wir lernen, wie wir unsere Energien ausrichten können, während wir gleichzeitig zulassen, dass Dinge entstehen.

Soziale Plastik ist die Philosophie, das Verstehen und die Praxis der Freiheit.

e: Sie sagen also, dass wir durch die Ausrichtung unserer Gedanken, Wahrnehmungen und unseres Fokus tatsächlich zusammen an der Substanz arbeiten, die das Material sozialer Interaktionen ist?

ShS: Ja, und es ist echte Arbeit. Im Prinzip nicht anders als eine Skulptur aus Stein oder Ton. Aber in dieser Arbeit – die Formung einer lebenswerten Zukunft – ist der Ich-Sinn entscheidend. Vor einigen Jahren dachte ich darüber nach, welche Fähigkeiten wir brauchen, um eine lebenswerte Zukunft zu schaffen und mir fiel dieser Satz ein: „Nachhaltigkeit ohne Ich-Sinn ist Unsinn.“ Ohne einen lebendigen Ich-Sinn wird es keine verbundene Zukunft geben. Denn nur durch diesen Sinn können wir dem Sein eines anderen Menschen begegnen, seine Integrität erfahren und den Geist und die Gestik einer Situation spüren.
Es gibt einen schönen Satz von Rudolf Steiner, in dem er sagt: „Das Sakrament der Zukunft ist Begegnung“. In diesem Sakrament geht es nicht um Glauben oder Rituale, die von außen kommen. Es geht um die Substanz zwischen uns, die durch Begegnung entsteht. Wenn wir verstehen, was es bedeutet, mit uns selbst und anderen und einer Situation präsent zu sein, können wir mit ganz konkreten Fragen arbeiten – zum Beispiel zur Weltwirtschaft oder unseren Vorstellungen von Fortschritt. Gleichzeitig können wir in dieser tiefen spirituellen Erfahrung sein, diesem Sakrament der Begegnung.

e: Das Sakrament der Begegnung ist ein wunderbarer Ausdruck. Können Sie noch mehr über die Beziehung des Ich-Sinns zu diesem Raum der Begegnung sagen?

ShS: Wenn ein Kind spielt, dann vertieft es sich vollkommen in sein Tun. Es plant nicht. Das Spiel entfaltet sich einfach und das Kind ist vollkommen eins mit dem, was geschieht. Der Unterschied zwischen einem Kind und dem vertieften Einlassen eines Erwachsenen ist unsere Fähigkeit für Vertiefung bei gleichzeitiger Reflexion. Es geht also nicht darum, zum Spiel eines Kindes zurückzukehren, sondern um die Fähigkeit, sich in etwas mit vollem Bewusstsein zu vertiefen, während wir ganz darin leben. Ich habe es vorher als „sehen, was wir sehen“ beschrieben. So wie wir die Fähigkeit entwickeln müssen, gleichzeitig den Prozess zu führen und geschehen zu lassen, Emergenz und Formbarkeit zu ermöglichen, müssen wir gleichzeitig in der Lage sein, uns in ein Tun zu vertiefen und gleichzeitig darüber zu reflektieren.
Wenn ich nur ein Individuum bin, dann bin ich getrennt vom Ganzen. Wenn ich meine Individualität für das Kollektiv loslasse, trenne ich mich von mir selbst. Um zu sehen, was uns aus der Zukunft ruft, müssen wir uns einem weiteren Feld öffnen, es erkennen und formen. Alle verbindenden Praktiken der Sozialen Plastik – zur Vertiefung von Ich-Sinn und Begegnung – erfordern die Arbeit mit diesen scheinbar gegensätzlichen Kräften.

Es geht um die Substanz zwischen uns, die durch Begegnung entsteht.
Author:
Mike Kauschke
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