Im Angesicht von Prometheus

Our Emotional Participation in the World
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October 24, 2022

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Ausgabe 36 / 2022
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October 2022
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Energiekrise und kollektiver Schatten

Die gegenwärtige Energiekrise verschärft eine ökonomische Krise, die wiederum zutiefst mit unserer ökologischen Krise verbunden ist. Wie können wir diese Erschütterung unserer bisherigen Lebensweise tiefer verstehen?

Things have to get worse, before they get better.« Dieser Satz, das erste Mal in Esalen (Kalifornien) gehört, hat mir bei der Bewältigung meiner eigenen Krise in den 90er-Jahren sehr geholfen. Vielleicht werden Historiker dereinst etwas Ähnliches über unsere Dekade schreiben. Es ist aber auch durchaus vorstellbar, dass sie es nicht tun. Vielleicht, weil es sie gar nicht mehr gibt. Wir leben – ich glaube, darüber besteht große Einigkeit – in ziemlich verunsichernden Zeiten, in denen wir eine Menge Dunkles, Schattenhaftes anschauen und (er)tragen müssen. Und es hoffentlich transformieren – im Innen und im Außen. Diese Schattenkräfte zeigen sich in einem Unbehagen, das wir als Einzelne, aber auch als Gesellschaft empfinden.

Das gegenwärtige Unbehagen der (deutschen) Gesellschaft hat aus meiner Sicht hauptsächlich mit drei Prozessen zu tun: Der erste ist offensichtlich. Die negativen Transformationen in der globalen Natur durch die Klimakrise sind auch bei uns so evident, so sichtbar, dass es nahezu unmöglich ist, sie zu verleugnen. Das hat – und das ist der zweite Prozess – in der Gesellschaft zu einem veränderten Bewusstsein geführt, das ich in dieser Geschwindigkeit vor vier Jahren nicht erwartete hätte: Bewegungen wie Fridays for Future sind entstanden; Journalisten, die in seriösen Medien kompetent über die Problematik informieren; Bundesverfassungsgerichte, die spektakuläre Zukunftsentscheide treffen; Oktoberfeste, die vegane Gerichte anbieten. Und vieles mehr. Beide Prozesse – die negative Transformation in der Natur und die positive Transformation im ökologischen Bewusstsein in der deutschen Gesellschaft haben miteinander zu tun. Sie führen aber aus meiner Sicht über eine angemessenere Wahrnehmung der planetaren Bedrohung und unserem im Vergleich dazu viel zu zaghaften Handeln (zu Recht) zu einer größeren Krisenstimmung.

Es gibt aber offensichtlich noch einen dritten Prozess, der aktuell noch viel mehr Unbehagen bereitet, aber auf den ersten Blick nichts mit der ökologischen Krise zu tun hat: die Wirtschaftskrise, aktuell wahrgenommen als Energiekrise, Lieferengpässe, Inflation und Rezession. Das kann schon für sich große Sorgen vor dem Winter auslösen. Es könnte aber sein, dass ein Teil des Unbehagens damit zu tun hat, dass wir spüren, dass es sich nicht um eine lokale, sondern eine globale Wirtschaftskrise handeln könnte. Und das bedeutet: eine Krise der Globalisierung und damit an den wirtschaftlichen und kulturellen Prozess unseres globalen Verbundenseins gekoppelt. Brexit, Trump, Corona, die Konflikte zwischen China und Taiwan oder der Krieg zwischen Russland und der Ukraine und die damit einhergehende Gas-Krise haben eine Globalisierung, wie wir sie in den letzten Dekaden erlebt haben, an ihre Grenzen gebracht. Damit aber hätten wir zwei globale Prozesse, zwei Sphären, die der Ökologie und die der Ökonomie, an einem Kipppunkt. Und diese beiden globalen Prozesse gehören natürlich zusammen, sie sind auf mindestens zwei Arten miteinander verknüpft.

Einmal über den Prozess der Industrialisierung, der Energieerzeugung durch den Verbrauch fossiler Rohstoffe, der uns überhaupt in die weltweite ökologische Krise geführt hat, indem er die Grenzen der Regenerationsfähigkeit der Erde weit überschritten hat. Hier geht die Kausalität von der Ökonomie zur Ökologie. Aber vielleicht sind wir, zweitens, an einem Punkt, an dem sich die Kausalität herumdreht, an dem die Grenzen des Wachstums dermaßen überschritten sind, dass die Natur in ihrer Krisenhaftigkeit auf Wirtschaft und Gesellschaft zurückstrahlt.

Wir sehen also, dass das glorreiche Bild der Globalisierung bröckelt. In den letzten Dekaden strahlten in Siegermentalität die Wachstumskurven eines entfesselten globalen Kapitalismus. So glänzend und heroisch, dass es undenkbar war, Veränderung an unserer Art des Wirtschaftens vorzunehmen – selbst dann, wenn man eine Kausalität zwischen ihrer Funktionsweise und dem ökologischen Niedergang sah. Die Globalisierung mit ihrer Wachstumsideologie war quasi sakrosankt. Was im öffentlichen Raum litt, war allein die globale Natur, die Sphäre der Ökologie. Denn wenngleich dieses Leiden nach Kräften verleugnet und verdrängt wurde, war es als düsteres Szenario stets im gesellschaftlichen Diskurs. Hier also ändert sich gerade etwas dramatisch: Plötzlich sehen die Globalisierung und ihre Protagonisten ebenfalls ziemlich traurig aus!

Globalisierung und Wachstumsideologie sind im Sinne C . G. Jungs ein Mythos – ein aktueller Mythos. Aktuelle Mythen zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine immense Wirkungsmacht haben. Diese beruht vor allem darauf, dass sie eben nicht als Mythos kenntlich sind, sondern als selbstverständliche, nicht hinterfragbare Tatsache gelten. Ein Mythos, der als solcher bezeichnet wird, ist also keiner mehr. Mein Verdacht also ist, dass dieser Mythos gerade wackelt, oder besser gesagt: als ein solcher entlarvt wird – zumindest anfänglich. Dieser Prozess spielt sich aber noch weitgehend im Unterbewusstsein ab. Dort aber verursacht er Ängste, Hilflosigkeit, Druck.

Wir haben uns also als (krisenerschöpfte) Gesellschaft gerade zwei Polykrisen zu stellen, die, wie es der Wortstamm von Öko-logie und Öko-nomie schon kenntlich macht, eigentlich eine ist. Zwar hat in den letzten Jahren ein ökologisches Umdenken in der Gesellschaft stattgefunden, das einem kleinen Wunder gleichkommt. Es hat aber auf den CO2-Ausstoß – überhaupt auf unseren ökologischen Fußabdruck – quasi keinen Einfluss gehabt: Er wächst. Und gegenwärtig erlebt die fossile Energie eine Renaissance. Das hinterlässt bei vielen von uns, vor allem jenen, die verstehen, was ein Kipppunkt ist, ein ethisches Dilemma. Wir handeln als Gesellschaft zwar bewusster als früher, aber nicht so, wie es die Situation erfordert. Wer aber nicht so handelt, wie es die Situation erfordert, erlebt sich als hilflos oder unzulänglich. Das schwächt Willen und Motivation. Und es schwächt die Integrität!

¬ WIR HANDELN ALS GESELLSCHAFT ZWAR BEWUSSTER ALS FRÜHER, ABER NICHT SO, WIE ES DIE SITUATION ERFORDERT. ¬

Wir erleben uns also als nicht integer. Das erzeugt einen großen moralischen Druck. Diesen zu tragen, zu ertragen und ihn nicht zu verschieben in das süße Paradies der Projektionen (»die Politiker, die Verschwörer, die Chinesen, die Amerikaner«) ist aus meiner Sicht die »Champions League« des Menschseins. Die meisten Menschen können das nicht – sie blenden deshalb äußere Realitäten aus (tiefenpsychologisch nennt man das Verleugnung) und verdrängen innere Realitäten, also eigene Täterseiten, ins Unbewusste – C. G. Jung nennt das den »Schatten«. Dort lebt im Verborgenen all das, was wir an uns nicht sehen wollen, weil es nicht zu unserem Selbstbild passt. Das gilt für unser privates Selbstbild. Was aber gerade in der Welt passiert, ist nicht nur ein privates Problem – es ist ein kollektives. Es lebt also nicht nur »in« uns, sondern auch im gesellschaftlichen Feld, im kollektiven Unterbewussten. Das ist unser kollektiver Schatten.

Hier wären nun gerade Menschen mit einem integralen Bewusstsein gefragt. Denn auch wir kulturell Kreativen sind in den Geist der Zeit verwoben. Vielleicht müssten auch wir noch viel mehr an Schattenarbeit leisten. Denn vielleicht haben auch wir, in unserer Hoffnung, etwas Ganzheitliches und Positives zur Lösung der Krise beizutragen, uns zu stark auf die »sanfte Natur«, das Licht, die Hoffnung, das Heilige fokussiert und den Schatten, das Gewaltvolle in uns und in der Natur ausgeblendet. Und bei allem Guten, was daraus entstanden ist, haben wir vielleicht auch ein gewisses spirituelles »Greenwashing« betrieben (»die sanfte Natur«, »the universe is kind«, »the great transformation« etc.), jedenfalls die Größe der Aufgabe im Innen und Außen verharmlost. Dabei ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts, ja die Menschheitsgeschichte, aber auch die Geschichte des Kosmos, die Naturgeschichte der Erde, voller Gewalt – ist buchstäblich gewaltig, und Transformation war phasenweise alles andere als sanft, in jedem Fall aber voller Energie. Insofern stecken auch in der gegenwärtigen Transformation der Gesellschaft und der Natur ziemlich gewaltige Zerstörungskräfte, die wir gerade immer mehr zu erahnen scheinen.

Was ist zu tun? Damit das Gewaltige nicht zu gewaltvoll wird, sondern »erhaben«, sollten wir versuchen, es so viel wie möglich im Außen und Innen zu verwandeln. Aber damit wir es verwandeln können, müssen wir es – die immense Energie, die darin steckt – sehen und verstehen. Wir müssen also unseren Humanismus, unsere Spiritualität, das Heilige oder wie immer wir es nennen mögen, vertiefen, bis weit in den (kollektiven) Schatten hinein, um uns und der Welt bestmögliche Transformations-BegleiterInnen sein zu können.

Das Thema Schatten und Gewalt führt erstaunlicherweise zum Thema Energie und damit zu etwas, was uns als Gesellschaft gerade gezwungener Weise sehr beschäftigt. Hier sehe ich paradoxerweise Hoffnung, denn vielleicht könnte darin ein Schlüssel zur Schattenarbeit liegen. Wenn wir die Energiefrage ganzheitlich führen würden – also von der banalen Gasheizung (und der wichtigen Frage, wieviel Energie notwendig ist für drei Minuten Duschen) über erneuerbare Energien bis hin zur Frage der seelischen Energie, der kosmischen Energie in Materie, Seele, Geist – könnte es uns vielleicht zu einer tieferen Dimension unseres Menschseins und einem Verständnis unserer Stellung im Kosmos verhelfen.

Ich arbeite in den letzten Monaten immer wieder mit der Imagination des Prometheus: Dieser mythische Titan, der seit Beginn der (ersten) Achsenzeit (ca. 700 v. Chr.) im kollektiven Bewusstsein der Menschen – und damit »in« uns lebt. Der uns das Feuer, die Energie, von den Göttern gebracht hat – als einzigem Lebewesen auf diesem Planeten –, um uns von unserem Fluch des Mangelwesens zu befreien. Nun hängt er, hängen wir, fast wie Gekreuzigte an einer Felswand: nicht mehr im Kontakt mit der Erde, aber auch vom Himmel abgetrennt. Und vom Himmel kommt jeden Tag der Adler, der uns etwas von dem Organ herauspickt, das essenziell ist für unsere Verkörperung hier auf Erden und auch unsere Tatkraft: die Leber. Feuer schafft Wärme, Licht – und Schatten. Vielleicht also geht es gerade um ein vertiefteres Verwandeln des energetischen Schattens in uns: kollektive Schattenarbeit. Und vielleicht ist diese Arbeit Teil einer Transformation unseres Welterlebens, das ich als atmosphärisches Bewusstsein beschrieben habe, als eine Wahrnehmung der Verbindungsräume zum Himmel und der Erde: in uns, zwischen uns und global. Das wäre eine Transformation, die man in ihrer Bedeutsamkeit und Gewalt getrost als zweite Achsenzeit beschreiben könnte.

Author:
Dr. Stefan Ruf
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