Im Grenzbereich

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Interview
Publiziert am:

October 24, 2022

Mit:
Rebecca Fox
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AUSGABE:
Ausgabe 36 / 2022
|
October 2022
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Rituale als Praxis der Verbundenheit

Rebecca Fox entdeckt in ihrer Arbeit mit Ritualen, wie wir uns wieder verbinden können – mit unserem innersten Wesen, mit anderen Menschen, mit dem Numinosen. Sie sieht darin auch das Potenzial, uns über die Grenzen von Herkunft und Kultur tiefer zu verstehen und zu begegnen.

evolve: Was hat dich dazu gebracht, mit Ritualen zu arbeiten?

Rebecca Fox: Als Teenager in den späten Neunzigern fand ich meinen Halt in der neuheidnischen Wicca-Religion. Als ich dann englische Literatur studierte, hatte ich keinen wissenschaftlichen Hintergrund, und ich war überhaupt keine kritische Denkerin. Zu diesem Zeitpunkt beschloss ich, mir selbst eine Ausbildung in kritischem Denken zu geben. Das und die Tatsache, dass ich in die reale Welt gestoßen wurde, führten dazu, dass ich meine gesamte Wicca-Religion dekonstruierte. Ich wurde zu einer Hardcore-Skeptikerin und Atheistin. Ich ging zu entsprechenden Konferenzen, hatte einen Podcast und leitete ein Treffen namens »Skeptiker im Pub«.

Aber irgendwann wurde mir klar, dass ich eine wissenschaftliche Erkenntnisweise außerhalb ihres korrekten Bereichs angewandt hatte. Ich hatte vieles von dem, was ich war und was ich über die Welt dachte, weggeschnitten, damit ich in das Modell des Menschen passte, der rational und kritisch über alles denkt. Ich fragte mich, was mich denn wirklich begeisterte. Vieles davon waren rituelle Handlungen verschiedenster Art. Und dann habe ich langsam angefangen, mehr von diesen Aspekten wieder in mein Leben zu integrieren.

Jetzt bin ich in einer Phase, in der ich versuche, eine Art Gleichgewicht zu finden. Ich möchte nicht wieder abrutschen in die völlige unkritische Akzeptanz von allem, was in einem Buch veröffentlicht wird, aber ich möchte mich auch nicht von allem abgrenzen, was nicht wissenschaftlich überprüft werden kann. Rituale existieren für mich in dieser Zwischenzone. Und sie dienen mir zur Selbstentfaltung, bereichern mein Leben und geben mir eine Verbindung mit der Welt. Indem ich mit Ritualen experimentiere, erfahre ich Dinge über mich selbst und über die Welt, von denen ich glaube, dass ich sie aus Büchern nicht erfahren hätte.

e: Was ist für dich ein Ritual?

RF: Für mich ist ein Ritual eine geplante Abfolge, in der Handlung (Worte/Bewegung), Gedanken (Ideen/Emotionen) und Bedeutung (Mythos/Numinoses) zusammengebracht werden, um Transformation zu ermöglichen. Rituale wirken, indem sie diese drei Elemente miteinander verbinden, und sie binden uns zusammen: zu kohärenten Individuen, zu authentischen Gemeinschaften und zum Kontakt mit etwas, das über das Rationale hinausgeht.

e: Mit der Online-Community Stoa bietest du offene, globale Rituale an. Was ist deine Absicht damit?

RF: Ich möchte erforschen, was für mich persönlich und für Menschen in Ritualen möglich ist. Vor ein paar Jahren, während des Lockdowns, gründete Peter Limberg die Online-Community »Stoa« und ich bot dort eine Serie mit dem Titel »Chapel Perilous« an. Das ist ein Begriff von Robert Anton Wilson, der auf einen Ort der ultimativen Ungewissheit verweist. Und das war der Ort, an dem wir uns damals alle befanden. Es war eine radikale Umarmung des Unbekannten. Ich arbeitete mit einer Gruppe von Menschen zusammen, die sich mit dem Nicht-Wissen anfreundeten und das Nicht-Wissen aufregend fanden.

Jemand sagte neulich zu mir: »Das fühlt sich riskant an!« Auf Stoa gibt es viele Gespräche, die oft eher den Intellekt ansprechen. Aber was ich und viele andere Menschen brauchen, ist eine verkörperte, symbolische Erfahrung. Deshalb denke ich, dass es sich riskant anfühlt, weil man sich in dieses unbekannte, ungewisse Gebiet wagt, in dem eine verkörperte Erfahrung tatsächlich unser Leben verändern kann. Auch Bücher und Vorträge können unser Leben verändern, aber ich glaube, dass Rituale ein größeres Potenzial haben, weil sie uns auf so vielen Ebenen ansprechen.

e: Wie siehst du die Kraft von Ritualen, uns über kulturelle und globale Grenzen hinweg zu verbinden?

RF: Bis zu einem gewissen Grad bin ich beschränkt, weil ich nur Englisch spreche. Aber vielleicht auch nicht, denn wenn man symbolisch denkt, versteht man umso weniger, was vor sich geht, je weiter man sich von seiner eigenen Kultur entfernt. Vielleicht ist es also besser, mit Menschen in meiner eigenen Sprache zu sprechen, weil wir den symbolischen Bezugsrahmen teilen.

Aber es gibt auch einen Weg, uns gegenseitig über unsere Unterschiede hinweg durch Rituale zu verstehen. In einem meiner Ritual-Studios sprachen wir über Rituale, die wir als Kinder praktiziert hatten, und die wir entweder als sehr bedeutsam empfanden oder von denen wir uns völlig abgestoßen fühlten. Ein Mann wuchs in China auf und musste den Gruß an die Kommunistische Partei Chinas mitmachen, aber er glaubte nicht wirklich an diese Ideologie. Oder ich habe gerade mit einem Mann in Russland gearbeitet und mit ihm ein Ritual entworfen, das ihm helfen sollte, eine sehr schwierige Entscheidung in seinem Leben zu treffen. Er kommt aus einer anderen Kultur, aber er kämpft mit einem Problem, das ich vollkommen verstehe, denn diese Entscheidungen, welchen Weg man im Leben einschlagen soll, sind ein allgemein menschliches Problem.

Viele Dinge, mit denen ich mich beschäftige, sind so grundlegend und menschlich, dass sich jeder auf der Welt damit identifizieren kann. Es sind menschliche Schlüsselerlebnisse, wie der Übergang zum Mann oder zur Frau, Heiratsrituale, Rituale rund um Tod und Sterben. Sie verwenden unterschiedliche Symbole, aber weil sie von Menschen durchgeführt werden, gibt es Ähnlichkeiten, die uns ein Gefühl der tiefen Verbundenheit geben können.

Ich reise viel, weil ich Familie in der ganzen Welt habe, und ich liebe es, an religiösen Ritualen jeglicher Art teilzunehmen. Ich war in Schreinen und Tempeln auf der ganzen Welt, und es gibt eine innere Haltung, die uns das ermöglicht. Wir können diese Räume betreten, wenn wir akzeptieren, dass es Mehrdeutigkeit gibt. Aber Ambiguität zu akzeptieren, fällt uns Menschen wahnsinnig schwer. Wenn wir darüber nachdenken, wie wir uns global engagieren können, um durch Rituale die Verbundenheit zwischen den Kulturen zu stärken, müssen wir als Erstes die Mehrdeutigkeit akzeptieren.

e: Warum glaubst du, dass Mehrdeutigkeit bei der Arbeit mit Ritualen so wichtig ist?

RF: Mehrdeutigkeit bedeutet, dass man sich der Sache mit einer gewissen Freiheit von den eigenen Glaubenssätzen nähert. Wir müssen Mehrdeutigkeit akzeptieren, wenn wir uns auf Experimente einlassen oder die Grenzen erweitern wollen. In den etablierten Religionen gibt es Kirchen, Moscheen, Tempel, Schreine, und wenn man diese Räume betritt, befindet man sich in einem rituellen Raum. Aber in vielen Traditionen, die nicht über diese spezifischen Räume verfügen, beginnt ein Ritual mit der Definition eines Raums, z. B. dem Zeichnen eines Kreises. Das verwende ich auch häufig in meinen Ritualen.

Dieser Raum wird oft als ein Grenzbereich betrachtet. Es ist ein Raum zwischen den Welten, ein Ort außerhalb von Zeit und Raum. Da Rituale nicht-alltägliche Ereignisse sind, müssen sie in einem nicht-alltäglichen Raum stattfinden. Und dieser nicht-alltägliche Raum ist von Natur aus mehrdeutig. Er liegt außerhalb der gewöhnlichen Welt, er ist ein Bereich, den wir in unserer eigenen Imagination und der Vorstellung aller Anwesenden schaffen.

Author:
Mike Kauschke
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