Im Rachen des Tigers

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

October 19, 2016

Mit:
Alnoor Ladha
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AUSGABE:
Ausgabe 12 / 2016:
|
October 2016
Was können wir tun?
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Neue Regeln für eine

Welt im Umbruch

Aktivismus verliert leicht die eigene Verstrickung in die Dualität des neoliberalen Denkens aus dem Blick. Mit seiner Organisation »The Rules« wirft Alnoor Ladha alte Spielregeln über Bord. Wissenschaft und Weisheit, Verstehen und Verbundenheit, sind in seinen Augen die Grundlage für einen kulturellen Umbruch, der die Banalität des Bösen überwinden könnte.

evolve: Wie kamen Sie zum ökologischen und sozialen Aktivismus?

Alnoor Ladha: Ich bin mit einer großen Sensibilität für Politik und Macht aufgewachsen. 1972 wurde mein Vater von Idi Amin ins Exil gezwungen und musste Uganda verlassen, und die Familie meiner Mutter war in den 60er Jahren in den postkolonialen Kämpfen der Unabhängigkeitsbewegung von Sansibar aktiv. Meine Eltern immigrierten nach Vancouver, wo ich aufwuchs. 1999 reiste ich nach Seattle zu den Protesten anlässlich des Treffens der Welthandels­organisation. Dort erfuhr ich ein Erwachen, das meine Sicht der Welt tief verändert hat. Ich verstand, dass der Klimawandel nicht von den Menschen, sondern vom Kapital verursacht wird: Wenn man den ökonomischen Aspekt des Klimawandels nicht versteht, nutzt einem das größte Wissen über Klimawissenschaften nichts.

Als ich immer desillusionierter wurde von den konventionellen Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), beschloss ich, »The Rules« zu gründen, eine Organisation mit kollektiven, dezentralen Entscheidungsprozessen, die sich auf die Wurzeln von Ungleichheit und Klimawandel fokussiert. Wir wollen nicht das Gleiche tun wie andere NGOs, die oft nur einen spezifischen, nachvollziehbaren Aspekt der gesamten Geschichte erzählen, um ihre Finanzierungen zu sichern. Wir wollen mit einem deutlich strukturelleren Ansatz arbeiten: Wie können wir die Verbindungen zwischen der globalen Ökonomie und Fragen von Ungleichheit und sozialer Gerechtigkeit finden? Wie kommen wir zu dem Verständnis, dass wir alle denselben Feind haben – wenn wir diese Sprache benutzen wollen –, nämlich die Logik des neoliberalen Kapitalismus. Es geht nicht um ein paar schlechte Menschen, es geht um die Struktur des Systems selbst. Wenn wir diese Verknüpfungen aufspüren, dann können wir die strukturellen Zusammenhänge erkennen.

¬ Aus einer spirituellen Perspektive erkennen wir, dass keiner von uns frei ist, wenn nicht alle frei sind. ¬

So wie ich die Herangehensweise der NGOs kritisiere, finde ich auch die Haltung vieler spirituell interessierter Menschen nicht hilfreich, die von sich sagen: »Politik ist nichts für mich.« Wenn wir die unsichtbare Wirksamkeit einer Ideologie nicht verstehen, dann beziehen wir trotzdem Stellung, weil wir den Status quo festigen. Eine strukturelle Perspektive unterstützt die spirituelle Arbeit und umgekehrt. Aus einer spirituellen Perspektive erkennen wir, dass keiner von uns frei ist, wenn nicht alle frei sind. Die Rettung kommt nicht durch das Meditieren in Abgeschiedenheit. Es gibt ein großartiges buddhistisches Sprichwort, das besagt: Erleuchtung geschieht nicht in einer Höhle, Erleuchtung geschieht im Rachen eines Tigers. Darüber sprach auch Sri Aurobindo in seinem Integralen Yoga: Der Sinn der spirituellen Praxis ist es, die materielle Realität zu verändern und nicht nur ein spirituelles Bewusstsein zu entwickeln. Die in der spirituellen Bewegung oft geäußerte Annahme, dass man entweder ein politischer oder ein spiritueller Mensch sein kann, ist sehr problematisch.

Dabei wird ein entscheidender Transformationsprozess ignoriert: Wenn man sich sozial engagiert, werden tiefgreifende spirituelle Prozesse ausgelöst. Man muss mit ganzem Herzen akzeptieren, was ist, während man es gleichzeitig kritisiert. Wir kommen in einen nondualen Zustand von Kritik und Erneuerung, in dem wir erkennen, was in der Welt schiefläuft, und konkret etwas dagegen tun, statt nur ein erleuchtetes Verständnis von den Problemen zu bekommen.

In diesem Prozess wirst du auf die Probe gestellt. Wir haben zum Beispiel eine drei Jahre dauernde Kampagne gegen die Weltbank und ihren Umgang mit Landnutzungsrechten gemacht. Ich dachte, ich hätte innerlich eine tiefe Akzeptanz entwickelt, aber als ich dann in einer Besprechung einem Technokraten gegenübersaß, der mir sagte, es sei vertretbar, 20 Millionen Menschen umzusiedeln, weil dies für ein Projekt mit Monsanto notwendig war, das schließlich zu einer besseren Ernährung der Menschen beitragen würde, da verstand ich die Banalität des Bösen. Das waren Momente, in denen ich wirklich die Beherrschung verloren habe und in tiefe existenzielle Abwärtsspiralen gefallen bin. Wenn du ein kalifornisches spirituelles Leben führst und am Wochenende Kurse im Esalen Institut besuchst, kommst du nicht in Situationen, die dich in dieser Weise auf die Probe stellen. Weil du dabei nicht nur deinem inneren Schatten begegnest, sondern auch dem kollektiven Schatten. In der politischen Arbeit und im Aktivismus ist das unvermeidlich. Für mich ist beides eng miteinander verwoben.

Ashram für Aktivisten

e: Woran arbeiten Sie mit Ihrer Organisation »The Rules«?

AL: »The Rules« hat zwei Bereiche, von denen einer ein Think-Tank, eine Art Dienstleister für progressive Ideen ist. Das Ziel ist, in den Mainstream-Medien mehr Aufmerksamkeit für progressive Ideen zu gewinnen. Wir arbeiten mit der wissenschaftlichen Erforschung von Memen, die man als Träger von Ideen und Werten verstehen kann – ähnlich wie Gene die Träger unseres Erbguts sind. Die Memetik ist ein neues Forschungsfeld, das aus der Evolutionstheorie und der Linguistik kommt. Wir haben einige führende kognitive Linguisten, Evolutionstheoretiker und Mem-Theoretiker zusammengebracht, um neue Modelle für eine post-kapitalistische Welt zu formulieren. Wir nehmen Ideen wie regenerative Landwirtschaft als Lösungsansatz für den Klimawandel oder minimales Grundeinkommen als Lösungsansatz für Ungleichheit und arbeiten mit Journalisten aus der ganzen Welt, die diese Ideen verbreiten möchten. Wir arbeiten auch mit Aktivisten vor Ort zusammen, damit wir die Stimmen der Menschen hören, die von diesen Situationen am stärksten betroffen sind.

Dadurch ist es möglich, im öffentlichen Diskurs einen Nährboden zu schaffen, damit neue Ideen akzeptabel werden. Wir versuchen, diesen Radius des Akzeptablen zu erweitern, damit die Menschen verstehen, dass es zum Beispiel keine radikale Idee ist, jedem Menschen auf der Welt ein Grundeinkommen von 30.000 Dollar jährlich zu geben. Eine radikale Idee ist vielmehr, alles so zu lassen, wie es ist, weil das der sichere Weg zum zivilisatorischen Kollaps ist.

»The Rules« hat aber auch einen organisatorischen Zweig, dessen einziges Ziel es ist, einen Zusammenhalt zwischen jungen Führungskräften zu schaffen, die wir als »Young Elders of the World’s Social Movements« bezeichnen. Wir bringen sie in einem einjährigen, voll finanzierten Stipendium zusammen, das wir »The Activist Ashram« nennen. Es umfasst drei Dimensionen. Es geht um den Austausch von Methoden und Ressourcen, bei dem die Menschen unterschiedliche Kenntnisse mitbringen und sich gegenseitig weiterbilden, vom Bürgerjournalismus über das »Theater der Unterdrückten« bis zur Mem-Theorie. Darüber hinaus sensibilisieren wir hier für das Erkennen von systemischen Verbindungen, für eine Weltsicht der Konstellationen: Wie können wir alles als miteinander verbunden verstehen, sowohl politisch als auch metaphysisch? Schließlich geht es auch um den spirituellen Aspekt des Aktivismus: Wie können wir Selbst-Fürsorge entwickeln? Wie können wir über Naturheilkunde und Schamanismus reden? Wie können wir ayurvedische Medizin und Yoga als tägliche Praxis etablieren? Wie können wir uns selbst nicht nur als politische Wesen sehen, die manchmal spirituelle Erfahrungen machen, sondern als spirituelle Wesen, die sich eine politische Rolle ausgesucht haben? Das ist eine ganz andere Perspektive auf die Welt.

Im Geburtskanal

e: Viele Aktivisten scheinen von einer spirituellen Verbundenheit mit der Natur angezogen zu sein. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür?

AL: Ich glaube, diese Verbundenheit ist eigentlich unser natürlicher Zustand. Wenn wir uns die Geschichte der Menschheit anschauen, hatten wir immer eine symbiotische Beziehung zu den Pflanzen und der natürlichen Welt. Als Jäger und Sammler waren wir für den größten Teil der Menschheitsgeschichte vollkommen von der Natur abhängig und mit ihr verflochten. Wir haben der Natur vertraut und sie vertraute uns. Die Moderne machte uns glauben, dass wir uns außerhalb der Prozesse der Erde entwickeln könnten, was natürlich ein widersinniger Gedanke ist, weil wir aus den Elementen der Erde gemacht sind und uns innerhalb der Strukturen von Gaia bewegen.

Dieses Gefühl der Trennung ist die Ursache all unserer Probleme. Wenn wir nach der Wurzel der gegenwärtigen, so vielschichtigen Krise fragen, erkennen wir, dass der Kapitalismus die Grundursache ist. Aber was ist die Wurzel des Kapitalismus? Es ist der Rationalismus, die dualistische Logik und die Trennung von der Natur. Es ist eine Lebensweise, die zum sechsten großen Artensterben führt als Kehrseite der Logik des Anthropozäns. Heute müssen wir uns als Zivilisation die Frage stellen, ob wir in ein oder zwei Generationen noch existieren werden.

e: Meinen Sie, dass wir zu den früheren Formen des Lebens zurückkehren sollten?

AL: Es gibt kein Zurück, das geht einfach nicht. Ich glaube nicht, dass jemand von uns unter den Bedingungen eines Jägers und Sammlers leben wollte. Gleichzeitig erkennen wir, dass der Fortschritt nicht linear verläuft, er ist keine pfeilförmige Bewegung, die Dinge werden nicht nur besser. Wir stehen am Rande eines zivilisatorischen Kollapses, täglich rotten wir 150 Arten aus. Aber die Moderne hat auch enorme Fortschritte und große technologische Meisterleistungen hervorgebracht. Wir müssen eine Synthese finden, die unsere Gesellschaft wieder ausbalanciert, weil wir verstehen, wie sehr unsere Lebensweise tatsächlich außer Kontrolle ist. Wir können die besten Aspekte einer indigenen Weltsicht mit den besten Aspekten der Moderne und der Technologie verbinden. Dieses Ausbalancieren muss aus einer Perspektive der Werte erwachsen, es muss auf Regeln gründen, weil diese generativ sind, also eine bestimmte Wirklichkeit stützen.

Wir befinden uns im Geburtskanal eines Prozesses und wir wissen noch nicht, was daraus entstehen wird. Wir haben das Potenzial, eine hilfreiche Kraft im evolutionären Prozess von Gaia zu sein. Wir haben auch das Potenzial, die zerstörerischste Kraft zu sein. Beide Optionen sind zutiefst mit der Moderne selbst verknüpft. Es gibt noch einen anderen Blickwinkel, unter dem wir unsere Situation betrachten können: Als Menschen das erste Mal auf dem Mond landeten, landete auch Gaia dort und sah sich selbst aus dieser Perspektive, weil wir Gaia sind, wir sind ihre Kinder.

Die Erde, die Biosphäre ist ein komplexes, anpassungsfähiges evolutionäres System, und ob wir als Spezies überleben werden, wird sich vermutlich in den nächsten 20 Jahren entscheiden. Das ist unsere Initiation, unser Erwachsenwerden als Menschheit. Wir müssen Mitgestalter und Fürsorgende eines bewussten evolutionären Prozesses werden, damit wir aufhören, allein dem wirtschaftlichen Wachstum hinterherzujagen und anfangen, unseren Planeten als ein lebendiges Öko-System zu sehen. Wir müssen unsere Beziehung zur Natur und zueinander überdenken – und unsere Beziehung zur Gemeinschaft, zu Arbeit, Ressourcen und Wirtschaft neu betrachten. Vielleicht geschieht aus evolutionärer Sicht der Schritt zu einer Stufe der Reife als Spezies und es wird Auslöser geben, die uns veranlassen, uns nicht mehr gegenseitig auszubeuten und den Planet zu zerstören – aber das bleibt abzuwarten und diese Entscheidung müssen wir gemeinsam treffen.

Nichtlineare Wirkung

e: Sehen Sie, dass durch Ihre Arbeit mit »The Rules« ein Wertewandel stattfindet?

AL: Also ehrlich gesagt, wir wissen es nicht. Ich finde den traditionellen Aktivismus nicht besonders hilfreich. In der Welt nach­Occupy müssen wir darüber nachdenken, was Aktivismus und sozialer Wandel bedeuten. Ich denke viel darüber nach, wie wir eine Vernetzung zwischen den Aktivisten aufbauen können. Und wie wir bei Aktivisten ein bewussteres, spirituelleres Verständnis von Denken, Sein und Handeln wachrufen können. Die Menschen, die sich für soziales Engagement entscheiden, sind oftmals sehr empathisch. Die Themen und Gemeinschaften, für die sie stehen, repräsentieren die große Mehrheit der Weltbevölkerung. »La Via Campesina« etwa ist eine soziale Bewegung, die 150 bis 200 Millionen Kleinbauern vertritt, »Ekta Perishad« verleiht 200 Millionen landlosen Menschen in Indien eine Stimme. Es ist heute extrem wichtig, die sozialen Bewegungen der Welt zusammenzubringen und sie dazu zu bewegen, ihr Denken und ihre Strategien zu erweitern, damit sie verbundener, koordinierter, kreativer und ganzheitlicher arbeiten können.

Aus memetischer Sicht ist es wichtig, die Kultur über Zeitungen, Zeitschriften, Artikel, soziale Medien, Wissenschaften, Film und Fernsehen bis hin nach Hollywood zu beeinflussen. Denn die Kultur, die Regeln, auf die wir uns beziehen und nach denen wir handeln, ist Ausdruck der kollektiven Täuschung. Sie zu beeinflussen, ist also sehr wirkungsvoll. Ob »The Rules« dabei erfolgreich sein wird? Wer weiß das schon. An einem Tag denkst du, die ganzen Anstrengungen zahlen sich nicht aus, und dann gibt es Tage, an denen du siehst, dass du wichtige Entscheider beeinflusst hast.

¬ Unsere Evolution als Menschheit ist die Lösung für unser drohendes Scheitern. ¬

Für mich ist das alte lineare Modell der NGOs von Ursache und Wirkung – ich habe X getan und deswegen ist Y geschehen – von Ego, Fundraising und Markeninteressen geprägt. Es folgt diesen neoliberalen Attributen und basiert auch auf einer sehr vereinfachten Sicht der Welt. Einschätzungen nach dieser traditionellen Art interessieren mich nicht besonders. Ich will die Kultur beeinflussen und helfen, die bessere Welt zu schaffen, von der wir alle wissen, dass sie möglich ist. Das erfordert totales Loslassen und gleichzeitig völligen Einsatz, bei dem wir wissenschaftliche Methoden nutzen. Aber nicht rationalistisch auf Ergebnisse fixiert oder mit der Hybris des Wissens. In vielerlei Hinsicht weiß ich nicht, wie effektiv wir sind und ich sage das auch unseren Unterstützern. Auf der anderen Seite lernen wir, wie wir Meme schneller erkennen und soziale Medien und Diskussionen besser analysieren können. Aber man kennt die Halbwertszeit einer Idee nie. Und der Mystiker in mir muss das akzeptieren.

Als Mystiker und Anarchist muss ich den Tanz zwischen Kreation und Umsetzung auf der einen Seite und Hingabe und Vertrauen auf der anderen Seite tanzen. Der Schlüssel liegt darin, zu wissen, was wann angemessen ist und wie es das eigene Handeln beeinflusst. Ist »The Rules« erfolgreich? In gewisser Weise spielt das keine Rolle. Warum engagiere ich mich dann in dieser Arbeit? Weil sie jenseits des Wissens wirksam ist, in nicht greifbarer Weise, nicht nach konventionellen Prinzipien messbar. Das ist mein Karma und es gibt nichts, was ich lieber tun würde.

Wenn du verstehst, was mit dem Klimawandel und der globalen Ungleichheit geschieht, kann dich das überwältigen. Du musst die Vision im Auge behalten, dass wir als Menschheit durch diese Initiation gehen und uns als Kultur und planetarer Organismus entwickeln. Dafür brauchen wir nonduales Denken, damit wir die Fesseln des alten kartesischen Denkens abwerfen können.

Wir brauchen sowohl die Kritik und die Analyse unserer gegenwärtigen Lage als auch die Vision einer post-kapitalistischen Welt. Unsere Evolution als Menschheit ist die Lösung für unser drohendes Scheitern. Die Bewegungen des Aktivismus sind ein Teil dieses notwendigen Schrittes, und die spirituelle Bewegung trägt einen anderen Aspekt dazu bei. Jetzt ist es Zeit für eine Synthese und Symbiose.

Das Interview führte Elizabeth Debold.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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