In der Wildnis der Vorstellungskraft

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

October 24, 2022

Mit:
Phoebe Tickell
Sophie Strand
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AUSGABE:
Ausgabe 36 / 2022
|
October 2022
imagine!
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Auf der Suche nach dem Seltsamen

Welche Geschichten erzählen wir uns vom Leben, welche Bilder und Metaphern nutzen wir? Sophie Strand und Phoebe Tickell schöpfen in ihren Imaginationen aus der Biologie und wollen feste starre Denkweisen in ein schöpferisches Fließen bringen.


evolve: Es ist das erste Mal, dass ihr euch begegnet, obwohl ihr die Arbeit der jeweils anderen kennt und davon beeindruckt seid. Was schätzt du, Sophie, an Phoebes Arbeit – und umgekehrt du, Phoebe, an Sophies Veröffentlichungen?

Sophie Strand: Phoebe, deine Arbeit mit »Moral Imaginations« ist eine sehr praktische Umsetzung von Gesprächen, die häufig nur in der Welt der Ideen leben. Es ist auch ein tiefer Dialog mit dem spirituellen, unscharfen Bereich, der in Gesprächen über Technik und Wissenschaft, Aktivismus und Philanthropie oft ausgeschlossen wird. Mir scheint es, du, Phoebe, bist wie ein Ökoton, ein Ort des Übergangs, an dem die Spannung zwischen zwei verschiedenen Ökosystemen zu mehr Biodiversität führt.

Phoebe Tickell: Danke, es freut mich, dass du mich so siehst. Als ich deine Arbeit entdeckte, spürte ich eine tiefe Verwandtschaft im Sinne von: »Wow, da ist noch jemand, die über Biologie und Wissenschaft und ziemlich ›abgefahrene‹ Themen so spricht, dass es sich eher nach einer liebenden Sprache als nach faktenbasierter Wissenschaft anhört. Wenn ich ein Ökoton bin, dann begibst du dich ins Unterholz der Ideen und an die unbegangenen Orte, wo Mythos, Wissenschaft und Religion einander befruchten.

SoS: Danke, das ist sehr großzügig von dir. Ich denke, wir teilen das Gefühl, dass Metaphern ein verbindendes Gewebe zwischen Disziplinen schaffen können, die sich sonst nie berühren oder durchdringen würden. Metaphern sind eine Möglichkeit, diese gegenseitige Befruchtung zu schaffen. In letzter Zeit betrachte ich Metaphern wie Nahrungsnetze, bei denen man die Ausscheidungen eines Wesens in die Nahrung eines anderen Wesens verwandelt. Man kann das metaphorisch tun, indem man zwei ungleiche Dinge durch Sprache oder das richtige Bild zusammennäht.

PT: Ja, es ist wie beim Kompostieren: In der Natur wird nichts vergeudet, die gesamte Materie und Energie fließt durch Ökosysteme. Mithilfe der Mikroben und Pilze werden Dinge abgebaut und in eine andere Art von Nährstoff umgewandelt, den dann ein anderes Wesen aufnehmen und absorbieren kann.

Wenn deine Geschichte auseinanderbricht

e: Während ihr beide sprecht, bezieht ihr euch auf die Biologie als grundlegende Metapher. Das ist eine Abkehr von der newtonschen Mechanik, die linear ist, getrennt in Ursache und Wirkung, Subjekt und Objekt. Was hat euer Interesse an der Biologie geweckt und wie hat es eure Vorstellungskraft angeregt?

PT: In meinem Leben habe ich immer damit gerungen, Kunst und Naturwissenschaften miteinander zu verbinden. In der Schule habe ich immer den Schwerpunkt Kunst gewählt, habe gezeichnet und gemalt. Ich nutzte die Kunst, um die Welt zu verstehen. Ich hatte vor, ein Grundstudium der Kunst zu absolvieren und dann in die Wissenschaft zu gehen. In der Wissenschaft faszinierten mich die Muster und die Vorstellungskraft.

Ich habe dann Molekularbiologie studiert und fand es sehr schwierig, große Mengen an Informationen und quantitativen Daten ohne eine kontextgebende Geschichte zu erinnern. Ich habe mich der Molekularbiologie über die Vorstellungskraft genähert, wie zum Beispiel bei der DNA. Die DNA erzählt uns die Geschichte der Epigenetik und der ihr innewohnenden Muster. Die DNA ist wie ein 3-D-Alphabet, das sich falten lässt und seine Codierung je nach Kontext verändert. Ich habe mich für ein Biologiestudium entschieden, weil ich neugierig und fasziniert von der Frage bin, wie das Leben funktioniert: Wie ist das Leben organisiert? Wie wirkt die Biologie? Wie leben Blätter, Bäume und Bakterien? Wie tanzt das alles miteinander und befindet sich in einem ständigen Wechselspiel?

¬ WIR KÖNNEN DIE DENKWEISE ÜBERWINDEN, DASS ALLEIN DER MENSCH EIN IMAGINIERENDES LEBEWESEN SEI. ¬

Der Wendepunkt, der mich zu dieser Entscheidung brachte, war eine Expedition in den Amazonas-Regenwald, an der ich mit 17 Jahren teilnahm. Ich verbrachte sechs Wochen im Dschungel. Dabei wurde ich sehr krank und wäre fast gestorben. Ich hatte eine Nahtoderfahrung, bei der ich mich zutiefst mit der Natur verbunden fühlte und merkte, wie sicher ich mich fühlte, obwohl ich vielleicht sterben würde. In diesem Moment der totalen Verwundbarkeit hatte ich das Gefühl: »Wenn ich jetzt sterben würde, wäre das für mich in Ordnung, weil ich ein Teil des Dschungels bin.«

Leben aus der Konfrontation mit dem Tod

SoS: Interessant, dass du diese existenzielle Konfrontation mit dem Tod hattest, die ich auch aus meinem Leben kenne. Ich habe schwere gesundheitliche Probleme, die mit 16 Jahren einsetzten, eine unheilbare genetische Krankheit. Außerdem habe ich in meiner frühen Kindheit sexuellen Missbrauch überlebt und hatte ein sehr starkes Misstrauen gegenüber Menschen und menschlichen Systemen. Als Kind verbrachte ich viel Zeit mit Tieren und versuchte zu verstehen, wie sie leben.

Oft folgte ich meiner Angst in biologische Forschungen. So hatte ich zum Beispiel große Angst vor Tollwut, aber dann habe ich mich für das Virus selbst interessiert. Das Virus wurde zu etwas Lebendigem, das etwas zu sagen hat. So bin ich oft dem Wurzelsystem eines symptomatischen Ereignisses bis zu seinen mikroskopischen Ursprüngen gefolgt. Ich war fasziniert von der Welt der kleinen Dinge: von Pilzen und Bakterien und davon, dass sie die wahren Götter zu sein scheinen, die allem zugrunde liegen – der Zivilisation, der Fermentation oder den verschiedenen Bewusstseinsformen.

Als ich auf die Arbeit von Lynn Margulis stieß, wurde mir klar, dass dies genau das ist, wonach ich gesucht habe. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich das Durchhaltevermögen habe, Wissenschaftlerin zu werden. Ich wollte schon immer Geschichten erzählen, und ich hatte nie das Gefühl, dass ich in der Lage sein würde, meine Geschichten zu erzählen und Wissenschaft zu betreiben. Also habe ich mir jede Vorlesung angesehen, die ich finden konnte, aber ich habe nie offiziell studiert. Wann immer ich einen langsameren, mäandernden akademischen Weg einschlagen wollte, hatte ich eine gesundheitliche Krise, die mir mitteilte: »Dafür hast du keine Zeit.«

Sophie Strand

e: Es ist faszinierend, dass ihr beide in der Jugend existenzielle Lebenskrisen hattet. Wie seht ihr die Beziehung zwischen dieser existenziellen Verwundbarkeit und der Kraft der Imagination, die euch beide so tief bewegt?

SoS: Die Momente, in denen die eigene Geschichte zusammenbricht, sind unglaublich wichtig. Man kommt dem Moment nahe, in dem sich das eigene Ich in viele Ichs verwandelt und man weiß, dass es eine sehr dünne, durchlässige Haut zwischen dem Ich und dem nächsten Schritt gibt. In diesen Momenten existenzieller Betroffenheit, in denen man zwischen Leben und Tod steht, sieht man plötzlich all die verschiedenen Tiere, diese Wesen, diese komplexen Beziehungen, diese Verwebungen. Man erkennt, dass auch sie Lebensformen und Wege sind, um zu einer Sinngebung zu gelangen.

Als jemand, die eine Nahtoderfahrung gemacht hat, interessiert mich im Moment, dass heute viele Menschen mithilfe von Pflanzenmedizin und bestimmten Arten von psychedelischen Erfahrungen nach Traumata suchen, die für sie gar nicht präsent sind. Mir scheint, das verharmlost die Tatsache, dass die meisten traumatischen Initiationen nicht einvernehmlich sind und in unterdrückerischen Systemen stattfinden, in denen man keine Wahl hat. Man ist einfach in diesem Moment gefangen und muss sich von ihm verwandeln lassen oder man geht zugrunde.

PT: Dass es nicht einvernehmlich geschieht, spricht eine größere Leere in unserer modernen Zeit an, nämlich den Mangel an Sinn, an Verbundenheit, an Initiation und die vielen Versuche, es zu finden. Aber dieser Versuch vertieft nur die innere Leere, denn wie du sagst, echter Sinn zeigt sich durch kontinuierliche Praxis, durch Reife und Erfahrung. Sinn kann nicht konstruiert oder willentlich herbeigeführt werden.

Sinn finden, dort wo du bist

e: Wollt ihr damit sagen, dass der Versuch, Bedeutungssysteme und Sinnzugänge zu übernehmen, die andere Kulturen genutzt haben, nicht den Sinn eröffnet, nach dem die Menschen suchen?

SoS: Ich habe zwei ganz unmittelbar körperliche Antworten darauf. Die eine ist, dass ich keine moralische Reinheit beanspruche. Bäume wandern, Kulturen infiltrieren und verändern sich ständig gegenseitig. Jede Religion ist synkretistisch: Religionen sind symbiotische Verschmelzungen vieler verschiedener Kulturen. Ich glaube also, dass wir immer auf andere Wesen schauen, um Informationen darüber zu erhalten, wie wir am besten leben, wie wir essen, wie wir weiterhin ein Körper unter anderen Körpern sein können.

Ich verfolge keine Reinheit, wenn es um die Idee geht, politisch korrekt zu sein und sich nichts anzueignen. Wir können natürlich vorsichtig sein, um die Weisheit einer Kultur nicht zu entwerten, sie in eine andere Ökologie zu transplantieren und so zu tun, als ob sie funktionieren würde. Wir leben an einem bestimmten Ort, der uns ganz bestimmte Informationen liefert. Es gibt Pflanzen und Bäume, invasive Arten, Überlieferungen der einheimischen Bevölkerung. In einem Radius von 20 Kilometern finden wir eine ›Versammlung‹ von Wesen um uns herum, die uns viel zu sagen haben. Sicher, du kannst auch nach Bali fliegen, aber verbring doch zunächst Zeit in diesem 20-Kilometer-Radius, lerne den Schmutz unter deinen Füßen kennen. Selbst in einem Löffel Erde gibt es Millionen von Bakterien und kilometerlange Pilzmyzelien.

PT: Wir befinden uns immer in einem Paradoxon. Wir leben in einer Zeit und in einer Kultur, in der den meisten Menschen die Verbindung zu ihrer Herkunft und ihren Vorfahren genommen wurde. Und das ist kein Zufall, sondern das Ergebnis des Handelns und der Kultur der weißen Kolonialmächte. Wenn wir Praktiken der Sinngebung aus anderen Kulturen übernehmen, ist es wichtig, dies mit Sorgfalt und kontextbezogener historischer Sensibilität zu tun: Was bedeutet es, dieses Ritual oder diese Praxis in dem dazugehörigen historischen Kontext anzuwenden? Wir befinden uns nicht in einem Vakuum, und wir können nicht einfach Dinge ohne Konsequenzen oder Kontext übernehmen.

¬ SINN KANN NICHT KONSTRUIERT ODER WILLENTLICH HERBEIGEFÜHRT WERDEN. ¬

Der Sinn findet sich im Auge des Betrachters. Meine Eltern sagen scherzhaft, dass ich schon als Kind kleine Dinge aus der Natur gesammelt habe. Ich hatte heilige Altäre, die mir einen Sinn gaben und meine Vorstellungskraft belebten. Der Sinn kommt aus dem Alltäglichen, er kommt nicht von außen, sondern aus der eigenen Geschichte. Es gibt eine Leere, wenn wir Sinn nur als Download, als Klick, als ­Copy-and-Paste suchen. Warum fangen wir nicht dort an, wo wir sind?

Meiner Ansicht nach gibt es also eine gewisse ethische Perspektive. Es ist problematisch, die Muster der Kolonialisierung weiterzuführen. Aber gleichzeitig könnte jemand sagen: »Ich habe diese tiefe Intuition und das Gefühl, dass ich nach Bali gehen soll. Ich verstehe es nicht, aber ich habe eine tiefe Verbindung zu den Signalen, die mir das Universum und meine Seele geben, und das ist der Ort, an dem ich sein muss.« Für mich ist das in Ordnung, ich vertraue auf die Intuition der Menschen. Wir sollten alle auf unsere Intuition vertrauen. Es ist also wichtig, nach innen zu hören, anstatt nach außen zu schauen.

Multikaleidoskopische Universen

e: Wie verbindet ihr diese tiefe Intuition mit der Vorstellungskraft?

PT: Für mich entspringen Intuition und Vorstellungskraft aus derselben Quelle. Oft denken die Leute, dass die Vorstellungskraft etwas Außergewöhnliches ist, das uns weg von der Realität und in die Fiktion führt. Aber für mich ist die Vorstellungskraft eine Fähigkeit und Übung, um in eine tiefere Beziehung zu dem zu treten, was ist. Intuition ist eine Fähigkeit und Praxis, die uns näher an unsere eigenen Geschichten, unsere eigenen Wege und unseren eigenen Sinn bringen kann.

SoS: Die Vorstellungskraft reicht bis ganz nach unten, ist tief in der Materie verwurzelt. Die Materie ist von Natur aus imaginativ. Es gab diese fettigen Lipidblasen, die sich teilten, und plötzlich wurden große Mengen an Kreativität und Leben in der Welt freigesetzt. Vorstellungskraft ist für mich wie die Verschmelzung von Materie und Bewegung. Auf diese Weise können wir die Denkweise überwinden, dass allein der Mensch ein imaginierendes Lebewesen sei.

Wir suchen immer bei den Menschen nach dem Sinn, aber in Wahrheit findet der wahre Sinn auf einer Ebene statt, die für uns zu groß ist, um sie überhaupt zu sehen. Wir sind diese riesigen fleischlichen Gefäße für Materie, die sich auf eine Reise begeben will. Unsere Intuition hat nichts mit uns zu tun. Wir sind ein Boot, das der Materie beim Reisen hilft, und wir ermöglichen Wiedervereinigungen, die so viel kleiner und größer sind als wir, dass wir nie in der Lage sein werden, sie richtig zu begreifen. Auch unsere Intuition ist von Natur aus materiell. Die Materie, aus der wir bestehen, ist absichtsvoll und will etwas tun. So mag es für mich im Nachdenken keinen Sinn ergeben, nach Japan zu ziehen, während die Materie in mir ihre eigenen Gefühle über die Wiedervereinigungen hat, die sie dort erleben möchte.

PT: Das ist eine großartige Art, es auszudrücken. Es impliziert die Bescheidenheit, das ganze Spektrum des Bewusstseins zu erkennen. Mit dem menschlichen Bewusstsein können wir die menschliche Größe der Dinge sehen, wie diese Flasche und diesen Computer. Mit unserem Bewusstsein können wir die Mikro- und Makroebene aber nicht wahrnehmen. Materiell und visuell können wir nicht sehen und fühlen, was auf der molekularen Ebene passiert oder was in Galaxien passiert, obwohl wir das mit Werkzeugen können. Als ich mich intensiv mit Zellbiologie beschäftigte, war ich von den mikroskopischen Bildern fasziniert. Aber es sind nur Bilder. Es gab einen Moment, als mir klar wurde, dass all diese Bilder, die man uns von einer Zelle, der DNA-Moleküle und den Lipidschwänzen gezeigt hatte, nicht der Realität entsprachen, denn ein Auge kann sie nie sehen. Man kann es nie sehen, weil es in diesem Maßstab kein Licht gibt, es ist von Natur aus grau und lichtlos.

Diese Erkenntnis erschütterte mich. Diese Momente sind katalytische Momente, die unsere Vorstellungskraft öffnen. Man erkennt, dass die Wahrnehmung eine bestimmte Linse ist. Es gibt verschiedene Maßstäbe, Realitäten und Formen von Licht. Bienen zum Beispiel können UV-Licht sehen, Schnabeltiere können elektromagnetische Wellen wahrnehmen. Es ist die Erkenntnis, dass wir in komplexen, vielfarbigen und jenseits der Farben liegenden multikaleidoskopischen Universen leben.

Phoebe Tickell

Fließende Durchlässigkeit

e: In unserem Gespräch erlebe ich, dass sich viele Fenster zu verschiedenen Maßstäben, verschiedenen Seinsweisen öffnen. Das Überschreiten von Dingen, die normalerweise nicht zusammenpassen, oder das Überschreiten von begrifflichen und kategorialen Unterscheidungen öffnet Erkenntnisfenster, die vorher nicht geöffnet wurden und die nicht von Menschen beherrscht werden. Das scheint ein Akt der Vorstellungskraft zu sein, aber auch ein Akt der Anerkennung der Wirklichkeit. Eine tiefe Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit erfordert ein ständiges Verschieben des Bezugsrahmens oder ein Sich-Einlassen auf verschiedene Möglichkeiten.

SoS: Ich verwende gerne die Metapher der Mykorrhiza-Pilzsysteme. Bei ihnen gibt es einen Zustand, der Supra-Zellularität genannt wird, was eine erhöhte Zelldichte benennt. Wir haben diese sehr begrenzte, atomisierte Vorstellung von einer Zelle, die einen Zellkern enthält, der nur Dinge von außen nach innen und umgekehrt bewegen kann. Aber in einem Pilzgeflecht haben die Hyphenzellen als Scheidewände sogenannte Septenporen. Dadurch können Zellkerne und Protoplasma das gesamte System durchdringen. Es kann mit anderen Pilzen mit anderen genetischen Informationen verschmelzen, und deren Zellkerne können hindurchfließen. Auch wir können diesen Fluss, diese Fluidität, diese materielle lymphatische Bewegung mit unserer Umgebung verkörpern.

¬ DIE MATERIE IST VON NATUR AUS IMAGINATIV. ¬

PT: Wenn man sich anschaut, wie die Evolution abläuft, dann ist die Kraft des Lebens wie ein riesiges, ständiges, paralleles Experimentieren mit vielen verschiedenen Möglichkeiten und Mutationen. Das Wort »Mutant« ist mit einem beängstigenden Tabu behaftet. Aber wir sind alle Mutanten, das ist der Kern des Lebens. Wir sind alle etwas anders und wir sind alle seltsam. Je weniger Seltsamkeiten es gibt, desto weniger hat das Leben die Möglichkeit, flexibel zu sein und Neues zu schaffen. Wir haben daraus einen Wettbewerb gemacht, bei dem man gewinnt oder verliert, das Überleben des Stärkeren. Aber in Wirklichkeit geht es um die Gestaltung von Neuem, Schrägem, Verrücktem, Buntem, Traumatischem und Seltsamem. Das ist der Kern des Lebens. Meine größte Hoffnung und mein größter Wunsch für die Welt ist, dass wir durch die Krisen, mit denen wir gerade konfrontiert sind, aus den Zwängen ausbrechen, die eine kleine Gruppe von Menschen der Menschheit und auch den nichtmenschlichen Wesen auferlegt hat.

Eine Prozession in Richtung Seltsamkeit

SoS: Ich betrachte das Ganze aus dem Blickwinkel des Traumas, denn wir alle sind durch andere traumatisiert worden. Wenn man traumatisiert ist, versucht man, stabile Wertesysteme zu schaffen, die einen wieder ins Lot bringen können. Aber diese stabilen Wertesysteme können auch starr werden und uns umbringen. Wir haben all diese Überlebensmechanismen geschaffen, um unsere verwundeten Körper am Leben zu halten, aber sie funktionieren nicht mehr und fallen auseinander. Wir müssen uns als Teil von Mutationen sehen, die promiskuitiv sind, die oft die Partner wechseln, die über unseren eigenen Körper hinausgehen.

Die größte biologische Neuheit entsteht, wenn Lebewesen anarchisch in Symbiose miteinander verschmelzen und wenn Lebewesen beschließen, ihre Form, ihre Spezies, ihre Vorstellung von einem Selbst loszulassen.

PT: Das Leben will auf dieser riesigen Prozession in Richtung Seltsamkeit sein und es will weiterleben. Jedes Mal, wenn eine Spezies ausstirbt, wird diese Bewegung gestoppt. Es ist gewaltig, wenn ein Lebewesen auf diesem Planeten aufgehört hat zu existieren. Da wird der Wunsch des Lebens zunichte gemacht, die Lebenskraft der Kreativität und der Vorstellungskraft zerstört. Denn für mich ist Evolution formgewordene Vorstellungskraft.

SoS: Vielfalt ist Bewegung und das Gegenteil ist Nicht-Bewegung, sie ist nicht lebendig. Ich denke, es sind die Abstufungen, die Unterschiede, die uns ausmachen. Es sind die Momente, in denen wir uns oberflächlich als Pilze individualisieren, obwohl wir mit einem kollektiven Mykorrhiza-Untergrund, einem Mycel verbunden sind, der die Fortpflanzung ermöglicht. In diesen Momenten, in denen zwei gegensätzliche Wesen mit genügend Unterschieden zusammenkommen, gibt es ausreichend Fragmentierung, die es ermöglicht, dass durch die Reibung etwas Interessantes entsteht. Mir gefällt die Idee einer pantheistischen Pluralität, die versteht, dass es Momente gibt, in denen die Dinge fragmentieren und auseinanderbrechen müssen, um die nötige Reibung zu erzeugen.

Ein faszinierendes Beispiel sind die bdelloiden Rädertierchen. Das sind mikroskopische Organismen, die ungeschlechtlich sind. Sie sind Freaks, weil sie ungeschlechtliche Abstammungslinien haben, weshalb sie sich nicht durch Fortpflanzung weiterentwickeln können. Bdelloide Rädertierchen können austrocknen und dann wieder zum Leben erwachen. Aber wenn sie ausgetrocknet und rehydriert werden und dann wieder zum Leben erwachen, wird ihre fragmentierte DNA neu gemischt. Sie erleben also das, was der meiotische Sex, also die Zellteilung, ermöglicht, durch ein Trauma. Ein Trauma ist also eine Möglichkeit, biologische Neuerungen zu schaffen, es ist eine Möglichkeit, die Dinge neu zu ordnen.

PT: Ich möchte ein weiteres Beispiel anführen. Bei meinem Studium war ich von Algen fasziniert, besonders von ihren seltsamen Stammbäumen. Es gibt diese unglaubliche Fülle von Vermischung ihrer DNA, wenn sie einander essen und verdauen. Ich war verblüfft, als ich das erfuhr, und fragte mich: Was ist überhaupt eine Spezies? Das ist für mich der reinste Treibstoff für die Vorstellungskraft.

SoS: Es berührt etwas Heiliges. Anstatt die verworrenen Kosmologien der Götter in vielen verschiedenen Kulturen zu betrachten, können wir diesen heiligen kosmologischen Impuls auf diese verschlungenen evolutionären Abstammungsverläufe richten und sie als erhabene Pantheons von Wesen, als Götterhimmel der lebendigen Wesen betrachten.

Neue Mythen

e: Das bezieht sich auf deine Arbeit, Sophie, über die Neuinterpretation von Mythen.

SoS: Ja, Mythen sind wie Luft: unsichtbar, bis man merkt, dass man in ihnen lebt und je nach ihren Grenzen gedeiht oder stirbt. Wenn wir das Wort Mythos hören, denken wir an Helden und Schlachten. Aber auch das Patriarchat ist ein Mythos – ebenso wie der Kapitalismus und die menschliche Vorherrschaft. Die Zivilisation ist ein Mythos. Und in diesen unmerklichen und doch umfassenden Erzählstrukturen sitzen wir heute fest wie die Fliegen im Spinnennetz gefangen. Ursprünglich war der Mythos kontextabhängig, wurde in einem atmenden Netz aufrechterhalten und passte sich ständig an. Aber das Imperium hing von der Entwurzelung der mythischen Ökosysteme ab. So wie Landschaften gestohlen und in Monokulturen verwandelt wurden, wurden auch ganze Kosmologien aus ihrem sozialen und ökologischen Kontext gerissen. Entwurzelt aus ihrem ökologischen Kontext und aus der sich erneuernden Atmung des gemeinschaftlichen Geschichtenerzählens, zementiert in der Schrift, erstarrten diese Geschichten zur Abstraktion und verstärkten die anthropozentrische Hyperindividualität des kolonialen Kapitalismus.

¬ DIE GRÖSSTE BIOLOGISCHE NEUHEIT ENTSTEHT, WENN LEBEWESEN ANARCHISCH IN SYMBIOSE MITEINANDER VERSCHMELZEN.¬

Aber wenn der Mythos an einem bestimmten Ort und in der anpassungsfähigen Praxis des gesprochenen Wortes verwurzelt ist, kann er ein kraftvoller Weg sein, um einen Dialog mit den verseuchten Ökologien zu beginnen, in denen wir uns bei der Verhandlung des Klimawandels und der sozialen Umwälzungen wiederfinden. Wir können nicht zu den Volkstraditionen unserer fernen Vorfahren zurückkehren. Aber wir können den Mythos als eine Möglichkeit zurückgewinnen, uns in einem widerstandsfähigen, artenübergreifenden Netzwerk von Wesen zu verwurzeln, die wildere Vorschläge dafür haben, wie wir das »Haus des Meisters«, die patriarchale Vorherrschaft, abreißen können. Ursprünglich wurden unsere mythischen Systeme als Gefäße für wichtige ökologische Weisheit geschaffen. Wir können jetzt fragen, welche Weisheit wir brauchen, um die kommenden klimatischen und sozialen Umwälzungen zu überleben. Und wir können diese Weisheit in eine der beständigsten Formen der Wissensvermittlung verwurzeln: in eine fesselnde, kontextbezogene Erzählung.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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