Intra-Aktivismus

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

October 19, 2016

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Ausgabe 12 / 2016:
|
October 2016
Was können wir tun?
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Die Gendermythen transformieren

Die Idee, dass wir gegen andere kämpfen müssten, um uns selbst zu entfalten, scheint tief in uns und den Beziehungen zwischen den Geschlechtern eingeprägt. Einen neuen Blick auf unser tiefes Verwobensein miteinander und der Welt bietet die »Quantum Social Theory«, die auch unser Handeln in einen völlig neuen Kontext stellt.

Beginnt der erste Kampf zwischen den Geschlechtern mit der Empfängnis? Ein einsames Spermium rast auf die Eizelle zu, drängt dabei andere, schwächere Spermien zur Seite und erobert die Eizelle, indem es ihre Schutzhülle durchdringt. Die Penetration der passiven femininen Eizelle durch den kraftvollen Stoß des vitalen maskulinen Spermiums ist natürlich ein Abbild des sexuellen Aktes. Sie bildet das Herzstück der wissenschaftlichen Grundlage für die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern: maskulines Handeln und feminine Passivität. Das Männliche ist die Ursache und die Wirkung ereignet sich im Weiblichen. Aber diese Geschichte ist schlicht und einfach nicht wahr.

Die neueste Forschung über die Biochemie der Empfängnis erzählt eine ganz andere Geschichte. Der Biologe Scott Gilbert vom Institut für Biotechnologie an der Universität von Helsinki spricht davon, dass die Eizelle »in einem Dialog mit dem Spermium steht«. Und die Anthropologin Emily Martins stellt fest, dass durch diese neue Forschung »der grundlegende und dominierende Mythos der westlichen Kultur widerlegt wird: dass Männer aktiv sind und Frauen passiv; dass Männer suchen und finden, während Frauen warten und auswählen. Zwischen beiden findet eine Interaktion statt.«

¬ Als Frauen und Männer sind wir daher untrennbar miteinander verbunden. ¬

Der grundlegende Mythos, der Handlungskraft mit der männlichen verkörperten Erfahrung verbindet, führt dazu, dass Handeln für uns bedeutet, als individuell Handelnde auf eine äußere Welt einzuwirken. Das prägt unser Verständnis von Wirksamkeit, Handlung und Veränderung. Und ebenso verkehrt wie die Geschichte vom Spermium, das das Ei erobert, ist die Geschichte, dass gesellschaftliche Veränderung von uns verlangt, gegen ANDERE, die von uns getrennt sind, zu kämpfen.

Neue feministische Theorien und Forschungen in einer Reihe von Bereichen möchten unser Verständnis von Wirksamkeit, Handlung und Veränderung transformieren. Die Entstehung der »Quantum Social Theory«, die unter anderem auf der Arbeit der Physikerin Karen Barad, der Politikwissenschaftlerin Jane­Bennet und des Experten für internationale Beziehungen Alexander Wendt basiert, liefert neue und überraschende Einblicke in Fragen der Wirksamkeit und gesellschaftlichen Veränderung. Wir inter-­agieren nicht einfach nur wie Eizelle und Spermium. Wir intra- agieren, als verwobene Ganzheit inmitten anderer Ganzheiten. Und die Schlussfolgerungen, die sich daraus ergeben, sind nicht nur eine frische Brise, sie sind ein Windstoß, der buchstäblich das Dach vom Haus bläst.

Kampf der Männer

Kürzlich führte ich ein Gespräch mit einer jüngeren Freundin über die Entstehung der neuen Männerbewegung. Dabei wurde mir klar, wie selbstzerstörerisch das gegenwärtige Modell von Veränderung ist. Männerbewegungen, die in Zusammenhang mit dem Feminismus entstanden sind, gibt es bereits seit etwa fünfundzwanzig Jahren. Aber seit ungefähr zehn Jahren sind junge Männer in einem Umfeld aufgewachsen, das Frauen schützt und fördert, und in dem Männer oft entweder als Angreifer oder als Zuschauer betrachtet werden. Sie erfahren sich in einem post-patriarchalen Kontext, falls es, wie sie einwenden, das Patriarchat überhaupt jemals gegeben hat. Diese neue Männerbewegung breitet sich durch REDDIT-Foren aus, und obwohl sie noch eine Randerscheinung ist, sind die Auswirkungen bereits in den bösartigen Kommentaren zu erkennen, die im Internet gegen Frauen im Umlauf sind.

Diese neue Männerbewegung hat viele Gesichter, allen gemeinsam aber ist, dass sie eine starke Reaktion auf eine wahrgenommene kulturelle Dominanz der Frau für erforderlich halten. Manche Männer haben die vermeintlichen Ansprüche und Manipulationen der Frauen und die mangelnde Anerkennung, die Männer für ihre Leistungen bekommen, satt. Hierfür steht die MGTOW-­Bewegung, die es auch in Deutschland gibt, auch wenn der Name ein englisches Akronym ist und für »men going their own way« steht. Ihrer Ideologie liegt über weite Strecken eine Kombination von Gender-Traditionalismus zugrunde, den sie als biologisch begründet sehen (z. B. bei der Organisation AGENS), und der versetzt ist mit Hass auf Frauen und insbesondere auf Feministinnen. Sie vertreten die Ansicht, dass Männer in einem feindlichen, frauenfreundlichen Klima ihre maskuline Souveränität und Überlegenheit wahren müssen, selbst wenn das bedeutet, dass sie keinen Kontakt mit Frauen haben. Auf wgvdl.com wird gefragt: »Wie viel Gleichberechtigung verträgt das Land« (wobei davon ausgegangen wird, dass es bereits zu viel davon gibt).

Darüber hinaus gibt es die »Aktivisten für Männerrechte«, wie z. B. MANNdat; sie betrachten die Männer als Opfer. Von ihrem Standpunkt aus begann die Diskriminierung bereits vor langer Zeit, weil Männer in den Krieg ziehen oder lebensbedrohliche Arbeiten verrichten mussten, während Frauen immer beschützt wurden. Heute sehen diese Aktivisten die Männer als rechtlich benachteiligt, denn die Frauen entscheiden, ob sie Kinder haben möchten, und erhalten öfter das Sorgerecht.

Und dann gibt es noch eine weitere Männer-Bewegung, die weniger politisch orientiert ist. Das sind die PUAs, die Pick-Up-Artists, wie z. B. Roosh V, ein erklärter Anti-Feminist und Neo-Maskulinist, der dafür plädiert, eine Vergewaltigung unter bestimmten Umständen zu legalisieren. Ihr Ziel ist es, mit so vielen Frauen wie möglich Sex zu haben, wobei sie dabei oft ihre Verachtung für Frauen zum Ausdruck bringen, denn ihrer Meinung nach muss das so sein, damit Männer sich gut fühlen.

In dieser Nische der Welt macht man sich auch über die Idee der »sozialen Gerechtigkeit« lustig, in der man den absurden Versuch sieht, Richtlinien und Moral in einer Welt zu schaffen, in der

es einzig und allein darauf ankommt, Vorteile zu erlangen und zu gewinnen. Es ist die Welt des abtrünnigen Einzelkämpfers, der sich selbst Gesetz ist, der nicht nach dem Diktat der menschlichen Rechte lebt, sondern nach dem Gesetz des Mächtigen. Das Einzige, was für sie zählt, ist Frauen ins Bett zu bekommen, Geschäfte zu machen und Spiele zu gewinnen oder ungesetzlich oder illegal zu handeln und dabei ungestraft davon zu kommen. Dieser Typ Mann befindet sich in einem Zustand des Abgespalten-Seins, ein unabhängiges Selbst, das sich in einem fortwährenden Kampf mit einem feindlichen und kämpferischen Umfeld befindet. Wie viele Eizellen kann er erobern?

Die Glaswand

Vielleicht ist es naiv, über die dystopischen und oft gewalttätigen Bedrohungen, die von diesen Randerscheinungen der Männerbewegung ausgehen, bestürzt zu sein. Für mich war die Grundlage der Frauenbewegung immer der utopische Impuls, eine Welt zu schaffen, in der Menschen – ganz egal ob Männer oder Frauen oder was auch immer – ihre Talente zum Ausdruck bringen und ihr Potenzial entfalten können. Doch als ich mit meiner jungen Freundin sprach, erkannte ich plötzlich Parallelen zwischen diesen Männergruppen und der Frauenbewegung aus den 70er Jahren.

¬ Wir intra-agieren, als verwobene Ganzheit inmitten anderer Ganzheiten. ¬

Damals gab es radikale Separatistinnen, oft Frauen, die erst vor Kurzem ihr Coming Out als Lesbierinnen gehabt hatten, die eine Welt ohne Männer schaffen wollten. Anti-Männer-Propaganda und Männerhass waren für sie völlig normal. Es gab in Amerika sogar das SCUM-Manifest – die »Society for Cutting Up Men«. Ich erinnere mich an die viel zitierte Erklärung von Andrea Dworkin, dass heterosexueller Geschlechtsverkehr Vergewaltigung sei. Dann gab es (und es gibt sie immer noch) Frauenrechtlerinnen, die Frauen immer und überall als Opfer sehen. An manchen westlichen Universitäten fordern Feministinnen »Trigger-Warnungen«, mit deren Hilfe Frauen und Angehörige anderer unterdrückter Gruppen vor potenziellen re-traumatisierenden Inhalten gewarnt werden sollen, z. B. bei Shakespeare, in der Geschichte des Westens, der Philosophie oder anderswo. Damit sollen Studenten diese Inhalte meiden und sich davor schützen können. Wenn ich mir die feministische Version der PUAs vorstelle, dann wären das Frauen, die bewusst das Begehren von Männern manipulieren, um durch sie Geld oder Status zu erwerben – essen in Restaurants, Schmuck oder sogar die Ehe.

Ich würde auch behaupten, dass es hier keine einfache Symmetrie gibt – die Unterdrückung der Frauen in den vergangenen Jahrtausenden unterscheidet sich vom Schicksal der Männer der unteren Schichten in Gesellschaftssystemen, die von einigen wenigen Männern etabliert wurden, die andere Männer als Kanonenfutter benutzen. Die Ähnlichkeit liegt in der Annahme eines Nullsummen-Spiels zwischen Männern und Frauen und dem Postulat einer Freiheit, die sowohl Freiheit ist VON den Zwängen, die durch das andere Geschlecht ausgeübt werden, als auch für eine Freiheit ZUR ungehinderten Entfaltung all dessen, was man tun möchte. Das sind Bewegungen von individuellem Handeln, die einander die Schuld zuweisen.

Dieser andauernde Groll zwischen Männern und Frauen ist ein Albtraum. Ich habe oft darüber geschrieben, wie unsere Identifikation mit Mann/Frau oder männlich/weiblich unser Menschsein einschränkt und uns entfremdet – voneinander und von Teilen unseres eigenen Wesens. Aber es ist noch viel mehr. Diese Polaritäten erschaffen und definieren einander. Wir sind notwendige Erfindungen füreinander und halten einander fest, auf Armlänge, und packen einander am Hals.

»Das Konstrukt der Gleichberechtigung kann zwar zur Dekonstruktion der gläsernen Decke führen, aber eine problematische Mauer bleibt bestehen: die Trennung zwischen ›Mann‹ und ›Frau‹«, schreibt Bayo Akomolafe in seinem Essay »Das Problem mit der Gleichberechtigung«.

Fähigkeit zur Antwort

Die Welt, die wir verändern wollen, ist nicht da draußen, sondern in uns. Nicht »in uns« als Individuen, sondern in dem »Uns«, das wir alle sind und das die ganze Schöpfung ist. Wenn ich, als »Frau« den »Mann« ignoriere – einschließlich der Weise, wie ich ihn kreiere –, bin ich fragmentiert und blind. Die Physikerin Karen Barad erklärt »Intra-Aktion« so, dass wir keine individuell Handelnden sind, die sich wie Billardkugeln auf einer Oberfläche bewegen, sondern dass unsere Erfahrung als Selbst eine Art »Schnitt« im Gewebe des Großen Ganzen ist. Der Schnitt trennt nichts ab, er stellt vielmehr ein Muster dar, das für den Augenblick »wichtig ist« (matters) – sowohl als Bedeutung als auch als Material.

Wir können blind an die Vorstellung des Getrenntseins glauben und weiterhin Schaden anrichten, indem wir nicht wahrhaben wollen, wie unsere Handlungen persönlich und gesellschaftlich/politisch auf uns zurückwirken und Folgen mit sich bringen, die wir niemals beabsichtigt haben. Oder wir können diese Schnitte, die wir gemacht haben, eingehend betrachten und mit unserer Bewusstheit und Fürsorge für das Große Ganze durchdringen, das wir niemals vollständig erfassen können.

Die Arbeit von Barad erläutert diese Schnitte: »Die Trennung Natur/Kultur ist die feste Grundlage für eine beeindruckende Reihe artverwandter Dichotomien (z. B. männlich/weiblich, tierisch/menschlich, primitiv/modern, natürlich/unnatürlich, echt/konstruiert, Inhalt/Form, Materie/Geist, körperlich/geistig, Material/Bedeutung, angeboren/erlernt, vorgegeben/gemacht) und die Ungleichheit, die damit assoziiert wird.«

¬ Die Welt, die wir verändern wollen, ist nicht da draußen, sondern in uns. ¬

Für Barad besteht das Ziel nicht darin, es vielen Öko-Feministinnen gleichzutun: einfach den unterdrückten Teil aufzuwerten und wertzuschätzen. Stattdessen untergräbt sie unsere Vorstellung von einer Welt getrennter, individuell und autonom handelnder Einzelwesen. »Individuen als solche gibt es nicht,« erklärt sie, »sondern sie entstehen vielmehr durch Intra-Aktion.« Alle Phänomene, einschließlich wir selbst, sind spezifische »spacetimematterings« – »Raum-Zeit-Bedeutungen« –, die durch Intra-Aktivität entstehen. Das bedeutet nicht, dass es keine Individuen gibt, aber sie sind nicht »individuell determiniert«. Die Grundlage bildet Intra-Aktivität und aus dieser erwächst das Individuum. Als Frauen und Männer sind wir daher untrennbar miteinander verbunden, verwoben oder ontologisch untrennbar.

Was bedeutet das für unser Handeln? Barad formuliert eine transformative Ethik, die von unserer Fürsorge und Sensitivität für diese Schnitte abhängt, die den Gegensatz Ich selbst/der Andere hervorbringen. Das Antworten entsteht nicht durch die Entscheidung eines Individuums oder die einfache Handlung eines Individuums, es entsteht durch Intra-Aktion, welche die Realität begründet. Aus ihrer Perspektive des »Agential Realism« sagt Barad: »Die Fähigkeit zum Antworten ist nichts, das man kalkulieren und dann umsetzen kann. Es handelt sich dabei um ein In-Beziehung-Gehen, das in dem fortwährenden intra-aktiven Werden und Nicht-Werden der Welt immer schon enthalten ist.« Mit anderen Worten: Response-Ability – die Fähigkeit zu antworten – macht das Wesen der Realität und des Kosmos aus, der inhärent antwortend und intra-aktiv ist.

Um als Frauen und Männer die Verantwortung für unsere eigene Transformation und die der Welt zu übernehmen, müssen wir nicht die richtige Antwort finden, sondern das Potenzial für Antwort erweitern. Es geht darum, »die Antwort des ANDEREN einzuladen, willkommen zu heißen und zu ermöglichen.« Dieser Prozess, »ein schrittweises Sich-(wieder)-Öffnen und Ermöglichen der Fähigkeit zur Antwort« bringt uns in die direkte Begegnung mit uns selbst und mit anderen. Barad lässt utopische Träume oder strategische Möglichkeiten in der Welt-so-wie-sie-ist hinter sich und ermutigt uns zur »schrittweisen Umarbeitung der Un/Möglichkeit«. Sie sagt: »Die Fähigkeit zu antworten, ergibt sich aus Schnitten, die binden.« Als Männlich-Weiblich-Andere mitei­nander verbunden, besteht unsere Fähigkeit zur Antwort – unsere Response-Ability – darin, uns den Orten der Begegnung zu öffnen, an denen wir diese Schnitte gemeinsam schaffen und gemeinsam darin leben – und immer tiefer antworten. Karen Barad ruft uns dazu auf, das Wissen um das Ergebnis loszulassen und in einer Welt zu leben, die über die vorgefertigten Kategorien hinausgeht, die unsere Vorstellung beschneiden.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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