Jenseits von Queer

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

October 24, 2022

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Ausgabe 36 / 2022
|
October 2022
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Auf dem Weg zu einer neuen Ganzheit


In unserer Kultur gibt es einen provokanten Impuls, über die Geschlechtertrennung und das grenzenlose Konsumverhalten hinauszugehen. Hat dieser Impuls zu mehr Vielfalt eine tiefere Quelle? Wie können wir uns unser Menschsein neu vorstellen – jenseits der binären Trennung, die uns immer noch prägt?

Es ist leichter, sich das Ende unseres Planeten vorzustellen als das Ende des Kapitalismus«, lautet ein populäres Zitat, das dem Philosophen Fredric Jameson zugeschrieben wird. Der Punkt ist nicht, dass es uns leichtfällt, uns das Ende der Welt vorzustellen, sondern dass sich das Ende des Kapitalismus wie das Ende der Welt anfühlt. Warum? Vielleicht hat es damit zu tun, wie sehr die modernen Identitäten mit dem Kapitalismus verwoben sind. Die Menschen, die wir waren, haben die zerstörerische Dynamik verursacht, die zu einer drohenden ökologischen und sozialen Katastrophe geführt hat.

Das westliche soziale Imaginäre kennt zwei Erzählungen für den »erfolgreichen« Lebensweg von Männern und Frauen: die Heldenlegende und die Liebesgeschichte. Obwohl sie archaisch anmuten, prägen sie noch immer die westliche Identität. Die moderne Übersetzung der Heldenerzählung ist eine Geschichte der Trennung und des Wettbewerbs um Wert auf dem Markt: ein erfolgreicher Beruf, der es dem Mann ermöglicht, seine Familie zu ernähren und sich die Liebe einer Frau zu »verdienen«, die sich um ein Zuhause kümmert. Auch die Liebesgeschichte hat ein wirtschaftliches Motiv. Die grundlegende Handlung dreht sich um eine jüngere Frau, die einen älteren, erfolgreichen Mann sexuell anzieht, damit er sie heiratet. Durch die Heirat steigt sie eine Sprosse auf der sozialen Leiter auf. Sein Selbstwert basiert darauf, wie gut er für sie sorgen kann, gemessen an der Größe ihres Hauses und den Konsumgütern, die die Familie kaufen kann. Ihr Gefühl, geliebt und umsorgt zu werden, wird auch daran gemessen, was man mit Geld kaufen kann – Kleidung, Schmuck, Möbel, Urlaube und Küchengeräte. (Selbst in erotischen Liebesromanen wie »50 Shades of Gray« werden Kleidung und Möbel ebenso ausführlich und sinnlich beschrieben wie der Sex selbst).

Es ist an sich nichts Falsches daran, schöne Dinge zu besitzen. Das Problem ist, wie sehr der Konsum mit unseren Identitäten verwoben ist. Grotesk überquellende Mülldeponien und voll beladene Containerschiffe mit billiger Kleidung auf dem Weg nach Afrika sind die Umweltkatastrophe, die das materielle Endergebnis ist (ganz zu schweigen von den ökologischen Auswirkungen der Herstellung all dieser Dinge). In der westlichen Kultur ein Mann oder eine Frau zu werden, bedeutet, vom Konsumismus kolonisiert zu werden. Die Liebe zueinander verwandelt sich in die Lust an den Dingen. In den männlichen Versorgern und weiblichen Konsumenten herrscht eine seelische Leere.

¬ IN DER WESTLICHEN KULTUR EIN MANN ODER EINE FRAU ZU WERDEN, BEDEUTET, VOM KONSUMISMUS KOLONISIERT ZU WERDEN. ¬

Die Auswirkungen dieser Leere sind in der heutigen Kultur spürbar: Burnout, Sucht, Verzweiflung und Depression. Dennoch wächst eine Gegenkraft durch Experimente mit anderen Lebensformen wie Co-Living und Zero Waste, wodurch immer mehr Menschen versuchen, außerhalb des Konsumdenkens zu leben. Angesichts des engen Zusammenhangs zwischen übermäßigem Konsum und Identität sollte es nicht überraschen, dass diese anti-konsumistischen, ökologisch bewussten Bewegungen mit einem Wandel der Geschlechteridentität einhergehen.

Momentan findet an den progressiven Rändern der westlichen Kultur eine Revolution in unserer Vorstellung vom Menschsein statt. Können diese neuen Identitäten der Keim für eine neue Kultur sein? Sind sie der Beginn einer neuen Weise, gemeinsam Mensch zu sein?

Die Geschlechterrevolution

Die Revolution, von der ich spreche, ist nicht einfach, und sie hat verschiedene Aspekte. Seit den 1960er-Jahren werden Frauen dazu ermutigt, Kleidung und Verhaltensweisen anzunehmen, die früher nur Männern vorbehalten waren. Heute erforschen mehr Jungen solche Verhaltensweisen, die früher nur Mädchen vorbehalten waren. Manche gehen noch weiter: Die Zahl der Kinder, die das bei ihrer Geburt festgelegte Geschlecht ablehnen, ist zwar noch gering, nimmt aber zu. Unabhängig davon, ob man die Idee, kleinen Kindern Hormonbehandlungen zu verabreichen, befürwortet oder fürchterlich findet, ist die Tatsache, dass sich immer mehr Kinder gegen das ihnen zugewiesene Geschlecht wehren, ein Armutszeugnis für unsere Kultur. Während einige Trans-Personen mit dem Geschlecht, das sie gewählt haben, zufrieden sind, erkennt eine nicht unbedeutende Zahl von Trans-Personen, dass es nicht darum geht, das »andere« Geschlecht zu sein, sondern dass mit der Zweiteilung unserer Menschheit etwas nicht stimmt. Die Queer- und Nonbinary-Bewegungen weisen darauf hin, indem sie das Entweder-oder, auf dem die moderne westliche Kultur aufgebaut ist, auf der Ebene des Selbst aufbrechen.

Diese kulturellen Impulse fühlen sich oft störend und unangenehm an. Aber ich bezweifle, dass man den Geist wieder in die Flasche stecken kann. Diese tiefen Erschütterungen in der modernen Identität tragen in sich eine evolutionäre Notwendigkeit und hängen mit den katastrophalen Sinnkrisen und der Zerstörung des Ökosystems der Erde zusammen. Sie sind Warnzeichen dafür, dass in der westlichen Kultur etwas nicht stimmt und sich ändern muss.

¬ DIE VIELFALT DER MENSCHLICHEN IDENTITÄT, DIE JETZT AUFKEIMT, KANN ALS EINE SUCHE NACH GANZHEIT GESEHEN WERDEN. ¬

Wie ich aus meiner Forschungsarbeit mit Kindern weiß, spüren Kinder die psychischen Folgen der binären Geschlechterzuschreibung. Viele verstehen, dass sie Waren erwerben sollen, um erwachsene Männer und Frauen zu werden, und sie spüren die Leere und Verzweiflung, die sich so oft hinter den glänzenden Fassaden verbergen. Ihre eigene Selbstvermarktung auf TikTok und Instagram ist nur ein Vorläufer dessen, was noch kommen wird. Nur wenige Kinder können eine solche Analyse formulieren, aber mit etwa zwölf Jahren sind sie in der Lage, die Erwartungen zu verstehen, welche die Kultur an sie stellt. Kinder, die als Mädchen sozialisiert wurden, sehen, dass sie mit der Entwicklung ihres Körpers zunehmend wegen ihrer Sexualität geschätzt werden, die ihren Wert auf dem Liebesmarkt bestimmt. Diejenigen, die als Jungen sozialisiert wurden, werden aufgefordert, unabhängig und stoisch zu sein und ihre Identität durch Arbeit zu finden, auch wenn viele von ihnen in dem enden, was der Anthropologe David Graeber als »Bullshit-Jobs« bezeichnete. Diese Lebenswege sind eng umgrenzt und teilen das Menschsein in das ein, was für Männer und was für Frauen »richtig« ist. Manche Kinder wehren sich und kämpfen dagegen an, Teile ihres Selbst zu verlieren, weil sie vielleicht glauben, dass sie als das andere Geschlecht mehr Integrität haben könnten. Manche widersetzen sich und finden Erleichterung in Alkohol oder Drogen. Manche wissen nicht, wie oder wogegen sie kämpfen sollen, und versuchen, sich das Leben zu nehmen.

Evolutionäre Vielfalt

Der Wandel beginnt von außen nach innen. Nicht-binäre und queere Jugendliche gehen einen Weg als Pioniere jenseits des binären Geschlechtersystems, indem sie sich weigern, sich an die Kleiderordnung zu halten, die bestimmt, was für biologische Männer oder Frauen angemessen ist. Für einige sind ihre Haare, ihre Kleidung, ihre Piercings und ihre Tätowierungen sowohl eine Selbstdefinition als auch eine Provokation. Für andere bedeutet Kostümierung Freude und Fantasie, ein Mittel zur Selbstdarstellung. Es gibt eine Vielzahl von individuellen Ausdrucksformen, eine Vielfalt von Stilrichtungen und sexuellen Orientierungen.

Immer mehr Menschen steigen aus der Konsumkultur aus und erkennen, dass die Versprechen von Heldentum und Romantik entleert und destruktiv sind. Motiviert durch innere und äußere Zwänge – die Sinnlosigkeit des zwanghaften Konsums und die ökologische Katastrophe der unkontrollierten Produktion von Dingen – versuchen sich viele junge Erwachsene durch gemeinschaftliche Lebensformen und Polyamorie von den alten Geschichten zu befreien und ein Leben zu führen, das nicht vom Konsum-Materialismus bestimmt wird.

Nach mehreren Jahrhunderten der Aufrechterhaltung dieser Trennung in der menschlichen Psyche, die als weibliche und männliche Identität gilt, ist die explosionsartige Entwicklung hin zu mehr Vielfalt ein evolutionärer Impuls. Wie lange noch können Frauen ihre Handlungsfähigkeit, ihren Ehrgeiz und ihre Aggressivität unterdrücken, um weiblich zu wirken? Wie können Männer ohne Zärtlichkeit und Fürsorge oder ohne tiefe Freundschaft und Austausch mit anderen Männern leben? Diese Trennungen in der Psyche, die wir alle vornehmen sollen, um echte Männer und echte Frauen zu werden, sind von Natur aus instabil.

Die heterosexuelle Paarung von maskulinen Männern und femininen Frauen ist keine heilige, unverrückbare Vorgabe der Natur. Die Erweiterung der Identitäten – Transgender, Transfrauen, Transmänner, queer, nonbinär – bricht diese beiden Kategorien auf und beweist, dass sie nicht natürlich sind. Wie uns die Anthropologie lehrt, gab es in vielen Kulturen mehr als zwei Geschlechter. In einigen gab es sogar fünf. Die Natur bringt Vielfalt hervor.

Ganzheit imaginieren

Ich möchte auf die sensiblen Kinder zurückkommen, die an der Schwelle zum Erwachsensein stehen und befürchten, Teile ihres Herzens und ihrer Seele zu verlieren, wenn sie in der heutigen westlichen Kultur erwachsen werden. Die Vielfalt der menschlichen Identität, die jetzt aufkeimt, kann als eine Suche nach Ganzheit gesehen werden, die nicht durch das Beharren der Kultur auf einer Polarität zwischen männlich und weiblich geteilt wird. Hinter der Weigerung, sich nach dem Geschlecht einzuteilen, oder dem Infragestellen der Gültigkeit des einen oder anderen Geschlechts verbirgt sich die Sehnsucht nach Ganzheit, die sich in Freiheit, Offenheit und Verbundenheit ausdrückt.

In ästhetischen Grenzüberschreitungen werden also neue Imaginationen der Identität zunehmend wirksam. Die Überwindung der bestehenden binären Kategorien schafft neue Möglichkeiten der Selbstdarstellung. Ob der fantasievolle äußere Ausdruck der eigenen Identität auf eine tiefere Veränderung hindeutet, ist unklar. Ändert sich mit der Aufhebung der binären Unterscheidung zwischen Männlichem und Weiblichem auch die tiefere Spaltung der Menschheit, oder ist die Veränderung nur oberflächlich?

¬ DIE BEWEGUNG DER WESTLICHEN KULTUR JENSEITS DER BINÄREN TRENNUNG IST EIN LEBENSPROZESS, VON DEM WIR ALLE EIN TEIL SIND. ¬

Darüber hinaus kann sich die innere Isolation, die Menschen dazu bringt, traditionelle Geschlechterrollen abzulehnen, verstärken. Die postmoderne Kultur des einzigartigen Selbstausdrucks ermöglicht es den Menschen, an ihrer Besonderheit festzuhalten. Doch gleichzeitig verstärkt dieses Beharren auf Einzigartigkeit und Andersartigkeit die isolierende Getrenntheit des westlichen Individualismus. Bei der Überwindung der falschen Trennung des binären Geschlechts kann man sich leicht auf einer Insel wiederfinden, getrennt von jedem anderen Lebewesen. Der Schutz und die Verteidigung des eigenen Selbst gegen die dominante Kultur des binären Geschlechtersystems kann einen in die Isolation treiben.

Treten wir einen Schritt zurück und betrachten wir den evolutionären Bogen, dem wir hier folgen. Die mittlerweile sterile und unangemessene Geschlechtertrennung bricht zusammen. Das explosionsartige Experimentieren mit unseren grundlegenden Identitäten als männliche und weibliche Menschen hat neue Kombinationen menschlicher Eigenschaften und Erscheinungen hervorgebracht. Es gibt eine Bewegung hin zur Auffächerung von Geschlechteridentitäten, in der neue Lebensformen und Potenziale entstehen. Diese Erweiterung kann jedoch zu einer Fragmentierung führen, die eine noch stärkere Isolierung zur Folge hat.

Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit für die weitergehende Überwindung der Fragmentierung, die uns tiefer in den Bereich des Imaginalen führt: die Verwirklichung der Ganzheit, von der wir ein Teil sind. Die Bewegung der westlichen Kultur jenseits der binären Trennung ist ein Lebensprozess, von dem wir alle ein Teil sind. Aber diesem Prozess wohnt eine Ganzheit inne, die viel größer ist als jeder und jede Einzelne von uns mit unserer speziellen Kleiderwahl. Es ist eine existenzielle Ganzheit, die alles Leben erfüllt, und die uns in der subtilen Wahrnehmung des Imaginalen zugänglich wird. Wenn wir diese Ganzheit verinnerlichen, verlagert sich die menschliche Identität von der Konzentration auf den äußeren Ausdruck zur inneren Verbundenheit mit dem Lebensprozess selbst. Wenn wir aus der Ganzheit leben, die wir sind und die wir miteinander teilen, wird unser individuelles Erscheinungsbild weniger zu einem Zeichen für ein bestimmtes Geschlecht oder eine bestimmte Identität, sondern zu einer Feier von Kreativität und Freude.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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