Ken Wilber im Diskurs

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Essay
Publiziert am:

April 17, 2014

Mit:
Ken Wilber
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Ausgabe 02 / 2014:
|
April 2014
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Über zwei neue Initiativen des integralen Philosophen

In letzter Zeit war es recht still um den integralen Philosophen Ken Wilber, der es in seinen über 20 Büchern in beeindruckender Weise unternommen hat, eine „Theorie von allem“ zu entwickeln. Wilbers Werk zeugt von der heroischen Anstrengung, einen Rahmen zu schaffen, in dem das gesamte Wissen der Menschheit Platz finden kann. Und sein Engagement, die unüberwindlich scheinende Kluft zwischen wissenschaftlicher Argumentation und spiritueller Einsicht zu überbrücken, hat weltweit viele Menschen berührt, die nach einer Versöhnung von Ratio und Spirit suchen. In der akademischen Welt wurde Wilber aber wegen des Bezugs zur Spiritualität oft nicht ernst genommen – und damit auch vom kulturellen Mainstream bisher kaum als echter Impulsgeber wahrgenommen.
Aktuell tritt Wilber nun wieder mit zwei Projekten an die Öffentlichkeit, deren Ziel es wohl unter anderem ist, mehr Menschen mit dem integralen Denken in Berührung zu bringen. Mit der Initiative „The Fourth Turning“ will Wilber dem Buddhismus eine neue (integrale) Wende geben und mit dem Kurs „Your Superhuman Potential“ eine Art integrale Persönlichkeitsentwicklung anbieten.
Der Begriff „The Fourth Turning“ bezieht sich auf die Drehung des Dharma-Rades im Buddhismus. Der Dharma steht hier für die Lehre des Buddha und wird manchmal als Rad symbolisiert. Als erste Drehung dieses Rades wird der Theravada-Buddhismus bezeichnet, der sich auf die grundlegenden Lehren des Buddha über die Ursachen und das Ende des Leidens bezog. Die zweite und dritte Drehung wurden durch den späteren Mahayana-Buddhismus vollzogen, bei dem die Praktizierenden nicht mehr allein die eigene Befreiung im Nirvana anstreben, sondern im Bodhisattva-Ideal auch der Befreiung aller Wesen dienen. Philosophisch enthält die zweite Drehung die Lehren über die Nicht-Zweiheit von Form und Leere, wie sie im Herz-Sutra formuliert wird. Dabei wird die Dualität zwischen Samsara, der Welt der Täuschung, und Nirvana, der spirituellen Befreiung, in einer nondualen Sicht der Einheit überwunden. In der dritten Drehung wurden die Lehren über die Buddha-Natur weitergegeben, was manchmal auch mit dem tibetischen Buddhismus assoziiert wird. Ken Wilber sieht es nun an der Zeit, dass sich das Dharma-Rad ein weiteres Mal in Bewegung setzt, um den Erkenntnissen und Erfordernissen unserer Zeit gerecht zu werden.

Unserer Kultur wäre die Weiterentwicklung der integralen Theorie als intellektuellem Bezugssystem auf der Höhe der Zeit zu wünschen.


Das scheint einleuchtend und notwendig, denn seit den Zeiten der letzten großen Veränderungen innerhalb des Buddhismus haben wir als Menschheit einiges dazugelernt. Die Ergänzungen, die Wilber vorschweben, beziehen sich vor dem Hintergrund seiner integralen Theorie auf Kernbereiche neueren Erkenntnisgewinns: Zum einen sind hier die Entdeckungen der Entwicklungspsychologie zu nennen, denen zufolge wir uns als Menschen durch Bewusstseinsstufen entwickeln. Dem Buddhismus bescheinigt Wilber, die Zustände der meditativen Versenkung gemeistert zu haben, aber eben das Wissen um diese Stufen oder Strukturen des Bewusstseins noch nicht genügend zu beachten. Als zweiten Punkt betont Wilber die psychologischen Erkenntnisse über den Schatten, also über die Inhalte, die ins Unbewusste verdrängt werden. Hier deutet Wilber darauf hin, dass man lange meditieren kann, ohne dass diese Schatten sichtbar werden. Aber sie entfalten ihre hemmende Wirkung, auch auf den spirituellen Entwicklungsprozess der Übenden. Bei der dritten Ergänzung zum Buddha-Dharma führt Wilber nun direkt seine integrale Theorie ins Feld und erklärt, dass jede Spiritualität heute einen Metakontext braucht, der Wissenschaft und Spiritualität verbindet.
Wilber praktiziert selbst seit vielen Jahren buddhistische Meditation und lernte bei einigen der einflussreichsten buddhistischen Lehrer der letzten Jahrzehnte. Obwohl es also verständlich ist, dass er seine integrale Theorie nun explizit auf den Buddhismus anwendet, liegt die Stärke seines Ansatzes gerade in ihrer Metaperspektive, die das Potenzial hat, verschiedene spirituelle Traditionen in einen Dialog zusammenzubringen. Vielleicht wären weitere Schritte in dieser Richtung noch wichtiger als die integrale Erweiterung des Buddhismus. Mit seinem Buch Integrale Spiritualität hatte Wilber vor einigen Jahren bereits begonnen, so eine Meta-Struktur zu entwickeln, die für die Weiterentwicklung aller spirituellen Strömungen wichtige Impulse liefert – und inspirierte zahlreiche spirituelle Lehrer, ihr Wirken nicht mehr allein in den Dienst ihrer jeweiligen Tradition zu stellen, sondern gemeinsam mit anderen spirituellen Richtungen nach Konturen einer „Weltspiritualität“ zu suchen.
Ein zweites, aktuelles Projekt von Ken Wilber ist der Online-Kurs „Your Superhuman Potential“, dem es um Persönlichkeitsentwicklung unter integralen Vorzeichen geht. Laut Ankündigung wird dabei eine „Technology of Mind“ vermittelt, die zur Verbesserung aller Bereiche des persönlichen Lebens genutzt werden kann. Das klingt nach simpler Selbstoptimierung und hat in integralen Kreisen bereits für Unbehagen gesorgt, da Wilber-Kenner um die Seriosität der integralen Theorie fürchten. Nicht zuletzt stößt auch die offensive Marketingkampagne im amerikanischen Stil auf Kritik. Positive Stimmen hingegen betrachten den Kurs als eine Möglichkeit, integrale Ideen an Menschen heranzutragen, die ihnen sonst nicht begegnen würden.

Wilber hat in seinem Werk versucht, die unüberwindlich scheinende Kluft zwischen wissenschaftlicher Argumentation und spiritueller Einsicht zu überbrücken.


Eine Gratwanderung also – aber Ken Wilber saß mit seinem Werk immer zwischen den Stühlen: Seine Ideen entspringen einem klaren, rationalen Denken, das mit einer ungeheuren Integrationskraft gepaart ist. Seine spirituelle Offenheit hat ihn aber auch für die spirituelle Szene samt New Age interessant gemacht (obwohl er genau diese Szene immer wieder scharf kritisiert). Mit dem integralen Buddhismus und seiner Human-Potential-Methode wendet sich Wilber nun noch mehr dem breiten spirituellen Publikum und der Selbsthilfe-Szene zu. Auf den intellektuellen Mainstream, der seine Anregungen eigentlich dringend brauchen könnte, dürften diese Vorstöße eher suspekt wirken.
Angesichts der Fragmentierung der akademischen Welt und der vielen Grabenkämpfe zwischen verschiedenen Gesinnungen gehören ein Update des Buddhismus und eine neue Technik persönlicher Veränderung möglicherweise nicht zu den dringendsten Aufgaben integralen Denkens. Unserer Kultur wäre vielmehr die Weiterentwicklung der integralen Theorie als intellektuellem Bezugssystem auf der Höhe der Zeit zu wünschen, das sich darum bemüht, an die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskurse anschlussfähig zu werden. Hier könnte Wilber mit seiner intellektuellen Brillanz und Integrationskraft wichtige Impulse geben. Vielleicht wird der zweite Band seines Opus Magnum „The Kosmos Triology“, der für 2015 angekündigt ist, Schritte in diese Richtung eröffnen.

Author:
Mike Kauschke
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