Klang und Transzendenz

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Kolumne
Publiziert am:

April 17, 2018

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Ausgabe 18 / 2018:
|
April 2018
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Kennen Sie auch die tiefen emotionalen Regungen, die beim Hören bestimmter Klänge und Musikstücke in uns auftauchen können und in ein Erleben führen, welches uns sonst nicht zugänglich wäre? Solches Erleben dürfen wir als Transzendenzerlebnis benennen, da es einen Einblick in einen sonst verschlossenen, erweiterten Erfahrungsraum bietet. Doch wie kommt dieses Erleben zustande? Womit hängt es zusammen und kann es möglicherweise wissenschaftlich untersucht werden?

Beginnen wir zunächst mit der Frage: Wohin führt uns der einfache Klang einer Klangschale? Häufig werden Meditationen mit einer Klangschale eingeleitet, da diese Klänge hervorragend geeignet sind, uns in einen Zustand achtsamer Stille zu führen. Neuropsychologisch betrachtet stellt der Anschlag eines Klanges ein plötzliches Ereignis dar, welches in den elektrischen Hirnpotenzialen eine Reihe ereigniskorrelierter Potenziale auslöst. Diese deuten bereits nach etwa 200 Millisekunden eine Aufmerksamkeitszuwendung an, nach etwa 300 bis 400 Millisekunden wird der bestehende Gehirnzustand durch den Inhalt des Klanges ersetzt. Danach lauschen wir dem Klang in gleichförmiger Weise, wobei die abklingende Hüllkurve des Klanges, also das stetige Leiserwerden, unsere Aufmerksamkeit immer weiter steigert und uns zunehmend sensibler macht. So gelangen wir am Ende, wenn der Klang kaum mehr hörbar und fast verklungen ist, in einen Zustand hohen Gewahrseins. Dieses Gewahrsein ist auf den Augenblick gerichtet im Gegensatz zu den eventuellen vorherigen Gedankenketten, welche unseren Geist in relativ festgefügte Bahnen alltäglicher Probleme, Aufgaben, Pläne, Sorgen, usw. in kognitiven und mentalen Abschweifungen festgehalten haben. Dabei hilft uns die Bedeutungsfreiheit des Klanges, um in eine Unbestimmtheit des geistigen Erlebens geführt zu werden, die uns einen zunächst konzeptfreien Bewusstseinsraum eröffnet. So sind wir nun frei, also mental unbestimmt und präsent geworden, und können der Stille lauschend empfänglich sein für feinste Regungen unseres Geistes. 

Am Ende des Klanges gelangen wir in einen Zustand hohen Gewahrseins.

Das Schaffen solcher konzeptfreien Räume im Alltag kann überaus hilfreich sein, um Möglichkeiten für neue Impulse und Gedanken zu schaffen, sowie um alternative Sichtweisen und Geisteshaltungen gegenüber bestimmten Situationen einnehmen zu können. Auch können die Momente der achtsamen Stille hervorragend dazu dienen, uns mit Emotionen in Kontakt zu bringen, die sonst kognitiv überlagert und verdrängt werden. Und schließlich, wenn wir durch den Klang frei genug geworden sind, kann der Zustand der Unbestimmtheit  in ein transzendentes Empfinden hineinführen, vielleicht in Form einer außergewöhnlichen Wahrnehmung, einer größeren Verbundenheit, eines Staunens über das Wunder des Lebens oder einfach einen Zustand bedingungslosen Seins. Auch große sakrale Räume mit langen Nachhallzeiten wirken in ähnlicher Weise, wobei selbst nicht-nachklingende Instrumente wie die Orgel und die menschliche Stimme durch den Hall in eine Atmosphäre der inneren Stille führen können. Hinzu kommt die Übertragung der Größe und Weite des Raumes in den inneren Raum unseres Bewusstseins, in die wir uns mental ausbreiten können.

Diese Prinzipien unterstützen wesentlich die »heilige« Atmosphäre von gregorianischen Gesängen. Bei diesen Gesängen ist das Besondere, dass sie in der dorischen Tonart gesetzt sind. In unserer modernen Musik sind die meisten Kirchentonarten weitgehend in Vergessenheit geraten und viele populäre Musikstücke sind in Dur oder Moll gesetzt, deren emotionale Wirkung oft mit den Attributen freudig oder traurig beschrieben wird. Dem Dorischen hingegen kommt eine mystische und geheimnisvolle Wirkung zu. Wenn wir das Heilige in unserer säkularen Welt wieder integrieren möchten, könnte ein geeignetes und vielleicht auch unverfängliches Mittel darin bestehen, dass sich Musiker in ihren modernen Kompositionen wieder auf die Kirchentonarten zurückbesinnen und den Mut aufbringen, auch neue Stücke wieder in dorischer Stimmung zu verfassen. Dies wäre ein Experiment für eine neue Spiritualität auch in der Musik. Denn in früheren Zeiten wurde in vielen Kulturen ein großer Teil der Musik für spirituelle Zwecke verfasst – dies ist uns weitgehend verloren gegangen. Was es jedoch braucht, um das Heilige als das Mystische und Unbekannte wieder in unsere Empfindungssphäre zu integrieren, ist die Bereitschaft, besser noch die Sehnsucht, in einer ungewissen Zeit, in der wesentlich nach Sicherheit und Gewissheit gestrebt wird, die Ungewissheit als essenziellen Wert zu integrieren. Nur so können wir bereit sein, uns für die nicht fassbaren und nicht kontrollierbaren Weiten des Transzendenten zu öffnen. Klänge und Musik können dazu ein geeignetes Medium sein.  

Author:
Prof. Dr. Thilo Hinterberger
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