Kleine Schritte oder große Visionen?

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Kolumne
Publiziert am:

January 24, 2022

Mit:
Christine ­Prayon
Kategorien von Anfragen:
Tags
AUSGABE:
Ausgabe 33 / 2022
|
January 2022
Wir leben zwischen den Zeiten
Diese Ausgabe erkunden

Bitte werden Sie Mitglied, um Zugang zu den Artikeln des evolve Magazins zu erhalten.

»System Change, not Climate Change« erschallt es bei den Klima-Demonstrationen einhellig im Chor. Die Kabarettistin Christine ­Prayon sehnt sich nach der Zeit »wenn wir den Kapitalismus endlich fachgerecht entsorgt haben«, vom »Paradigmenwechsel« ist die Rede. Allmählich dämmert uns Menschen, dass es nicht reicht, alles ein bisschen ökologischer zu machen, sondern dass eine radikale Transformation ansteht, wenn wir weiterleben wollen auf diesem Planeten.

Doch wie geht so ein umfassender, tiefgreifender Systemwandel? Wo sollen wir anfangen beim »fachgerechten Entsorgen« eines so offensichtlich dysfunktionalen Weltbildes? Sollen wir uns den kleinen, gangbaren Schritten zuwenden und dabei unter Umständen vor lauter Geschäftigkeit die übergeordnete Vision aus den Augen verlieren? Oder gelingt wirklicher Wandel nur, wenn wir uns der Radikalität verschreiben und keinerlei Kompromisse eingehen? Geht es um Haltung oder um Taten, um kulturelle oder strukturelle Veränderung, um inneren oder äußeren Wandel? 

Da lassen sich verschiedene Strategien beobachten: Macher*innen sehen ihr Wirkungsfeld in konkreten Maßnahmen. Sie erkennen, dass wir die nur da ergreifen können, wo wir gerade sind. Daher lassen sie den einen Fuß im System stehen als festes Standbein im Status Quo, und um in Verbindung zu bleiben mit der Mehrheit der Menschen – um nicht abzuheben, nicht den Boden zu verlieren. Mit dem anderen Fuß tasten sie sich allmählich, aber beharrlich in etwas Neues vor, in das noch nicht Erprobte, in das zu Entwickelnde. Sie entwerfen Konzepte, die zwar noch sehr weit von unserem höchsten Potenzial entfernt sind, dafür aber den unschlagbaren Vorteil haben, heute umsetzbar zu sein: mit den Menschen, die jetzt die Erde bevölkern. Bürger*innenräte und Gemeinwohlökonomie sind Beispiele für eine solche Haltung. 

Niemand von uns kann voraussagen, auf welche Weise unsere Veränderungsimpulse Wirkung zeigen werden.

Aber es gibt für diese und ähnliche Initiativen auch Gegenwind. Und zwar nicht nur aus den Reihen der Ewiggestrigen, der Reformblockierer*innen. Nein, auch von da drüben schimpft es herüber, von den Visionär*innen. Der Vorwurf lautet: nicht radikal genug, nicht weitreichend genug, zu tief im bestehenden System verhaftet. Und ich kann die Kritik verstehen. Warum? Menschen, die Veränderungsprozesse von der Perspektive der höchsten Vision aus betrachten, geht es nicht zuallererst um konkrete Maßnahmen, sondern um die zugrundeliegende Haltung. Sie verweigern sich – man kann es konsequent nennen, radikal oder auch trotzig – dem herrschenden System und seinen Strukturen und Institutionen. 

Also was denn nun? Bei der Haltung beginnen oder beim Handeln? Niemand von uns kann voraussagen, auf welche Weise unsere Veränderungsimpulse Wirkung zeigen werden, wenn überhaupt. Indem wir aber dafür einstehen, das lineare Prinzip von Ursache und Wirkung zu verlassen, ermutigen wir vielleicht auch andere, die komplexen Zusammenhänge zwischen ihrer Haltung und ihrem Handeln zu beobachten. Darum erübrigt sich höchstwahrscheinlich auch die Frage, wo wir anfangen sollen: Erst Haltungsänderung, dann Strukturen schaffen, die dazu passen, oder andersherum? Es braucht das alles nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. An allen Ecken und Enden und von allen Blickwinkeln aus. 

Wir haben alle so viel beizutragen. Schenken wir es dem Wandel. Ich möchte mich nicht länger für meinen Beitrag rechtfertigen müssen, möchte nicht hören, er sei weltfremd. Möchte mir nicht anmaßen, beurteilen zu können, was besser, nachhaltiger, schneller wirkt. Und ich möchte auch nicht mehr wettern gegen jene, die weniger radikale Wege einschlagen als ich. Ich bin sehr froh, dass es Menschen gibt, die die Geduld aufbringen, Konzepte auszutüfteln, Rechtsformen zu finden, Vereinbarungen zu formulieren – alles Tätigkeiten, die mir nicht so sehr liegen.

Und ich kann meinen eigenen Beitrag besser einbringen, wenn ich mich nicht zuerst durch ein Dickicht von Skepsis oder gar Zynismus kämpfen muss, mündend im Verdikt, ich sei naiv, blauäugig.

Indem wir das beherzigen, erkennen die Macher*innen an, dass sie die Unbedingtheit der Visionär*innen brauchen, um die Richtung nicht aus den Augen zu verlieren. Und die Visionär*innen sind froh, dass es Menschen gibt, die den Mut haben, konkrete Schritte zu gehen, und seien sie noch so klein und voller Kompromisse. Wenn wir auf diese Weise aus der Geschichte der Getrenntheit heraustreten, dann singt jeder kleine Beitrag das Lied von der großen Vision. Und die Vision erweitert ihre Blase und ruft beherzt nach dem Konkreten, dem ersten Schritt. Das Große ist im Kleinen enthalten, das scheinbar Unmögliche im Möglichen.  

Author:
Heike Pourian
Teile diesen Artikel: