Kultur und Tiefenkultur

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Kolumne
Publiziert am:

January 24, 2022

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Ausgabe 33 / 2022
|
January 2022
Wir leben zwischen den Zeiten
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Wir erleben gerade den Beginn eines spannenden ­Moments der Evolution: den Beginn des Anthropozäns. Eines Zeitalters, in dem die Menschheit zu einem entscheidenden Einflussfaktor der biologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde wird. Aus kosmischer und philosophischer Perspektive geht es sogar um noch mehr: um die Frage, ob Menschen dazu in der Lage sind, ihre heute vorhandenen vielfältigen Erkenntnisse, riesigen Produktivkräfte und globalen Kommunikationsweisen letztlich vor allem für »humane« Ziele und Zwecke einzusetzen. Oder ob sie diese vor allem dazu benutzen, sich immer mehr gigantische Jachten, Autos und Villen zuzulegen und dabei die Erde verwüsten. Moderne Wissenschaft und Technik sind so weit entwickelt, dass alle Menschen mit gesunder Nahrung, umfassender Bildung und sinnvollen Arbeiten und Entfaltungschancen ausgestattet werden können. Doch weltweite Geflechte aus Ängsten und Machtgier bewirken stattdessen unsinnige Steigerungen von Militärausgaben und in manchen Ländern sogar Rückfälle in diktatorische Zeiten.

Um den Ausdruck unserer menschlichen Potenziale etwas besser zu verstehen, braucht es einen kleinen Ausflug in die Grundlagen menschlicher Kultur generell. Und dazu macht es Sinn, einige wesentliche Momente des Kulturbegriffs zu unterscheiden. Eine auf den ersten Blick recht einfache, doch bei näherer Hinsicht zugleich recht erhellende Differenzierung bietet das sogenannte Eisbergmodell der Kultur. Es unterscheidet die für unsere biologischen Sinnesorgane (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) wahrnehmbaren Kulturformen wie Theater, Bücher und diverse Kunstwerke vom anderen, viel größeren Teil der Kultur, der aber für unsere Sinne nicht unmittelbar wahrnehmbar und daher weitgehend unbewusst ist. Der norwegische Friedensforschers Johan Galtung prägte dafür den Begriff »Tiefenkultur«.

Die Nachhaltigkeitsforschung erkennt zunehmend, dass man dem Klimawandel nicht nur mit technischen, sozialen oder politischen Maßnahmen begegnen kann.

Kulturwissenschaftlich gesehen ist festzuhalten, dass die Unterscheidung der beiden Dimensionen letztlich eine Abstraktion ist, denn im täglichen menschlichen Fühlen, Denken und Handeln sind beide Dimensionen vielfältig miteinander verwoben. Wenn ich ein Buch lese, ein Fest feiere oder ein Video schaue, also die sinnlich wahrnehmbare Dimension von Kultur lebe, werden letztlich immer auch die nicht-sinnlich-wahrnehmbaren Werte, Normen und Stile in mir aktiviert – und dabei weitgehend unbewusst entweder bestätigt oder infrage gestellt und verändert. 

Die Nachhaltigkeitsforschung erkennt zwar zunehmend, dass man dem Klimawandel nicht nur mit technischen, sozialen oder politischen Maßnahmen begegnen kann, sondern dass es auch eine Frage der Kultur ist. Doch es gibt eine starke Scheu, dabei die sichtbare Kultur und die Tiefenkultur zu unterscheiden und die unbewussten starken Beharrungskräfte der Tiefenkultur zu thematisieren. 

Auf den ersten Blick scheint es daher kaum einen Ausweg aus diesem Dilemma des Klimawandels zu geben, welches letztlich auch ein Dilemma moderner Wissenschaft und Kultur ist. Wenn wir jedoch dem Eisberg moderner Kultur in seine Tiefen folgen, deuten sich zumindest Hoffnungsschimmer für eine allmähliche Veränderung der in den letzten Jahrzehnten noch relativ gefrorenen Wert- und Normgefüge unserer Kultur an. Und diese Veränderungen unserer Normen und Werte haben letztlich viel mit der Ausweitung von Bewusstsein, Liebe und Kreativität zu tun, wie es mein Lehrer, der leider zu früh verstorbene Sozialökologe Rudolf Bahro formulierte: »Wir kommen weder praktisch noch im Verstehen an die Ursachen heran, wenn wir nicht anstatt aus Abwehr aus Urvertrauen handeln lernen. Auf diese so häufig und weitgehend verschüttete Quelle müssen wir zurück, sie müssen wir pflegen. Nur glücklich können wir ›richtig‹ sein. Bloß pflichtgemäß werden wir nur Eingriffe finden, mit denen wir doch wieder die Harmonie der Welt stören. … Es geht also um eine soziale Praxis, die unsere Liebesfähigkeit entwickelt.«  

Author:
Mike Hosang
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