Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
April 17, 2014
Helmut Dörmann gehört zu den Vorreitern einer integralen Spiritualität, die versucht, die Essenz der spirituellen Traditionen mit den Herausforderungen der heutigen Zeit lebendig zu verbinden. Für evolve beschreibt er seinen Weg von der Einheit in die Vielfalt des Lebens und darüber hinaus.
Ich war wohl schon immer ein Suchender. Als junger Mann wusste ich intuitiv, dass es da „etwas“ gibt, das durch mich entdeckt werden möchte. Was das sein könnte, war mir lange Zeit nicht klar, bis ich, mit 23 Jahren, eine tiefgreifende Einheitserfahrung machte. An einem gewöhnlichen Nachmittag ging ich, etwas gedankenverloren, in einem sehr schönen kleinen Wäldchen spazieren. Aus heiterem Himmel, einfach so, kam ich in einen Zustand der Glückseligkeit. Ich spürte von einem Moment auf den anderen: Ich bin Licht. Ich erlebte mich als etwas „Heiliges“. In mir öffnete sich eine unglaubliche Weite und Grenzenlosigkeit. Gleichzeitig gab es kein ICH mehr. Ein Zustand, den ich in dieser Tiefe nie wieder erlebt habe. Leider!
Auf der Suche nach Menschen, mit denen ich mich austauschen konnte, stieß ich auf eine Gruppe, die mit Botschaften aus der geistigen Welt arbeitete. Das mag esoterisch anmuten, doch ich fand in diesen Durchgaben zu einem tieferen Verständnis der Erfahrung, die ich selbst gemacht hatte. Interessanterweise begannen für mich in diesem Umfeld auch meine christlichen Wurzeln wieder aufzuscheinen. In den Weisheiten des „kosmischen Christus“, vermittelt durch geistige Wesen (Engel), erlebte ich im Vergleich zum kirchlichen Dogma eine Unmittelbarkeit, die viel von der existenziellen Qualität zum Ausdruck brachte, die mir noch gegenwärtig war.
Irgendwann kam der Punkt, an dem mir dieser Rahmen zu eng wurde, und so habe ich dann mehrere Jahre lang allein gegenstandslose Meditation praktiziert. Doch so auf mich gestellt, musste ich erkennen, dass sich in mir nicht wirklich etwas entwickelte. Ich begann also, nach einem spirituellen Lehrer zu suchen, und stieß dabei auf Willigis Jäger. Die von ihm autorisierte Kontemplationslehrerin Cäcilia von Schöning sollte über viele Jahre für mich eine wichtige Wegbegleiterin werden. Mein aufrichtiges Suchen nach einem konkreten Weg, den ich gehen konnte, erleichterte es mir, mich für eine fest umrissene Form der Praxis – die Kontemplation – zu entscheiden, wenngleich ich, damals noch unbewusst, bereits ein subtiles Empfinden dafür hatte, dass diese Form letztlich nur ein Hilfsmittel ist. Für mich war zu dieser Zeit zentral, dass ich spirituelle Führung suchte. Aber ich spürte bereits eine treibende Kraft in mir, die mich zu einer Bewegung aufforderte, die im Zweifel über die spirituelle Tradition hinauswies. Heute würde ich das vielleicht den evolutionären Impuls nennen. Damals war es einfach das Wissen, weitergehen zu müssen von dem Punkt aus, an dem ich zu dieser Zeit stand.
Nach einigen Jahren des gemeinsamen Weges wurde ich von Cäcilia von Schöning zum Lehrer ernannt, wenngleich ihr nicht verborgen geblieben war, dass ich dem klassischen Bild eines Kontemplationslehrers nicht wirklich entsprach. Die großen Mystiker wie Meister Eckhart oder Theresa von Avila berühren mich zwar bis heute zutiefst, doch hatte ich schon zu Beginn meiner Lehrtätigkeit auch das Gefühl, dass es noch etwas anderes braucht für eine zeitgemäße Spiritualität, die auch unseren gegenwärtigen Lebensumständen gerecht wird. In meiner persönlichen Praxis habe ich schon früh versucht, den Zwischenraum zwischen dem, was die Tradition der Mystik vermittelt, und meinen eigenen Erfahrungen zu erkunden. Dabei habe ich dem Prozess der Kontemplationspraxis vertraut, bin aber gleichermaßen meiner Intuition gefolgt.
Die Praxis ist nicht das Eigentliche, sondern nur eine Form, die versucht, den Zugang zur Essenz zu eröffnen.
Im tibetischen Buddhismus, wo ich, beruflich in der Hospizarbeit tätig, parallel zu meiner Kontemplationspraxis eine dreijährige Ausbildung in Buddhistischer Psychologie absolviert habe, begegnete mir eine Lebendigkeit, die sich unmittelbar auf das bezog, was das Menschsein in der Welt an Herausforderungen mit sich bringt. Dadurch inspiriert, suchte ich mir einen tibetischen Lehrer, Tenzin Wangyal Rinpoche. Dieser führte mich in verschiedene Meditationspraktiken ein. Hier bekam ich durch Methoden wie die Phowa-Praxis, einer meditativen Vorbereitung auf den Sterbeprozess, die man sowohl für sich selbst als auch in der Begleitung von Sterbenden für diese praktizieren kann, konkrete „Techniken“ an die Hand, die die Lücke zwischen Leere und Form zu überwinden schienen. Doch musste ich feststellen, dass auch die buddhistische Tradition für mich nicht zur Heimat im Sinne eines Ankommens wurde, denn ich entwickelte – und das tat wirklich weh – keinerlei Bezug zu den kulturellen Aspekten der Praxis.
Mein Abschied vom Buddhismus ließ mich freier werden, denn ich konnte meine eigene Durchbruchserfahrung in ihrer Grundsätzlichkeit auf einmal besser verstehen. Die stille, gegenstandslose Meditation ist ja in allen großen spirituellen Traditionen bekannt. Und mir wurde deutlich, dass die konkrete Ausformung der Praxis nicht das „Eigentliche“ ist, sondern „nur“ eine Form, die versucht, den Zugang zur Essenz zu eröffnen. Aus der Erfahrung dieser Essenz heraus entsteht, in meiner Wahrnehmung, das dringende Bedürfnis, sich nicht nur auf diese Welt einzulassen, sondern sie auch zu transformieren. Dieser Prozess der Transformation bezieht die eigene Entwicklung mit ein. Indem ich als Individuum wachse und mich entfalte, kann ich meinen ganz persönlichen Beitrag zum Wohle des Ganzen leisten.
Für meine Lehrtätigkeit bedeutete diese grundlegende Einsicht, dass es mir immer wichtiger wurde, den Schwerpunkt der Vermittlung auf dieses Essenzielle zu richten, weniger auf die Tradition selbst. Was dazu führte, dass ich mich über die Jahre immer mehr von der durch Willigis Jäger begründeten Kontemplationslinie entfernte und mich schließlich schweren Herzens aus ihr verabschiedete.
Die integrale Theorie von Ken Wilber, mit der ich mich bereits seit vielen Jahren beschäftigt hatte, hat mir letztlich einen Rahmen eröffnet, in dem all die wertvollen Puzzleteile, die ich in den Jahrzehnten meiner spirituellen Suche gefunden hatte, auf neue Weise ein stimmiges Bild ergaben. In der Idee einer integralen Lebenspraxis fand ich die alltagspraktischen Bezüge, die mir in den großen Traditionen bisher gefehlt hatten. Die Verbindung von Psychologie, Emotionen, Schattenarbeit, Körperübungen und weiteren lebensweltlichen Aspekten füllte die Lücke, die ich über viele Jahre wahrgenommen hatte. Als ich noch klassische Kontemplationskurse gegeben habe, waren die Menschen zum Teil über Jahre in meinen Gruppen, ohne sich gegenseitig auch auf der persönlichen Ebene kennenzulernen oder sich auszutauschen – das war schlicht nicht Teil der formellen Praxis. Durch die integrale Landkarte wurde mir deutlich, dass diese „reine“ Praxis zwar eine Notwendigkeit auf dem spirituellen Weg darstellt, aber eben nur einen Ausschnitt dessen umfasst, was spirituelle Entwicklung für uns als aktive Menschen, die in der Welt tätig sind, bedeuten kann.
Heute gebe ich Jahreskurse zu integraler Spiritualität und integralem Dialog, in denen Meditation nach wie vor einen zentralen Anker bildet. Aber ich integriere weitere Übungen wie das buddhistische Tonglen (eine Methode zur Arbeit mit Gefühlen), Körperarbeit, tibetische Heilpraktiken sowie Elemente des Bohmschen Dialogs und Perspektiven des Evolutionären Dialogs. Dabei ist es mir wichtig, das Zusammenwirken all dieser Elemente im Dienste einer ganzheitlichen spirituellen Entwicklung, die nicht nur in die Leerheit führt, sondern auch die Entfaltung unseres Menschseins im Alltag unterstützt, zu vermitteln. Es geht mir darum, dass Menschen miteinander und mit der Welt in einen neuen Kontakt kommen, und dies auf eine Weise, die über die Selbstbegrenzung einer rein auf das Ich bezogenen Arbeit hinausgeht. Wahrscheinlich kommt hier auch mein tiefes inneres Bedürfnis zum Tragen, das, was eigentlich unaussprechlich ist, aussprechbar zu machen. Mir ging es nie darum, unbedingt etwas grundlegend Neues schaffen zu müssen, sondern meine Arbeit ist von dem Wunsch getragen, Menschen zu zeigen, wie man aus der spirituellen Erfahrung heraus über diese Erfahrung reflektieren und sie im Leben auf allen Ebenen ausdrücken kann. Viele Aspekte, die unser heutiges Dasein in der Welt ausmachen, waren zu Zeiten, als die großen spirituellen Traditionen entstanden, schlicht noch gar nicht entwickelt. Man kann den Traditionen nicht vorwerfen, dass sie auf die daraus entstandenen Herausforderungen keine Antworten haben. Mein Anliegen ist es, mich aus der Ganzheit des Lebens heraus auf all die Fragen, die das Leben uns heute stellt, zu beziehen.