Netzwerke der Gewalt

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

October 29, 2014

Mit:
Dr. Margaret Wheatley
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AUSGABE:
Ausgabe 04 / 2014:
|
October 2014
Führung neu denken
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Terror in Zeiten des Internets

Charismatische Führer bestimmen unsere Wahrnehmung terroristischer Netzwerke und scheinen für deren Entstehung zentral zu sein. Die Leadership-Beraterin Margaret Wheatley weist seit 9/11 indes auf eine steigende Tendenz zur Selbstorganisation von Terrorvereinigungen hin. Sie scheinen eine sich selbst reproduzierende Dynamik zu gewinnen, die weit über den Einfluss der Köpfe an ihrer Spitze hinausgeht. Ihre Einsichten haben sich in den vergangen Jahren leider bestätigt. Wir sprachen mit Margaret Wheatley über einen Aspekt des Terrors, der oft übersehen wird.

e: Warum ist unser normales Verständnis von Führung bei terroristischen Netzwerken nicht angebracht?


MW: Die wesentliche Struktur jedes selbstorganisierten Netzwerks, wie wir es auch bei Terrororganisationen vor uns haben, ist horizontal, nicht hierarchisch, und geschieht ad hoc und nicht einheitlich. Diese breite Dezentralisierung erschwert die Unterdrückung jeder Rebellengruppe. Solange wir uns Organisationen wie eine Maschine vorstellen, erkennen wir nicht die Macht selbstorganisierter Netzwerke. Wir suchen nach dem Führer und beurteilen einen Angriff danach, ob eine Führungsperson sichtbar und in der Lage ist, mit den Truppen zu kommunizieren. Anfang 2006 hörte ich Interviews mit US-Analysten, die einschätzen sollten, ob Osama bin Laden noch eine Bedrohung darstellte. Sie achteten auf traditionelle Eigenschaften von Organisationen wie Sichtbarkeit, Technik, das Vorhandensein einer Kommandokette, von Befehlsgewalt oder Kommunikationskanälen. Gemessen an diesen Kriterien schien bin Ladens Macht stark geschrumpft zu sein.
Aber solche Gruppen erscheinen zwar führungslos, werden aber in Wahrheit sehr kraftvoll geführt, und zwar von der Leidenschaft, der Wut und der Überzeugung ihrer Mitglieder. Menschliche Netzwerke organisieren sich immer um einen gemeinsamen Sinn oder Zweck. Für Menschen ist Sinn ein starker Attraktor – eine verbindende Kraft, die scheinbar zufälliges Verhalten innerhalb bestimmter Grenzen hält. Menschen, die mit einem Ziel tief verbunden sind, brauchen keine Anweisungen, Belohnungen oder Führer, die ihnen sagen, was sie tun sollen. Netzwerke beginnen mit der Verbreitung von Informationen. So finden sich die Mitglieder untereinander, so lernen sie voneinander, so entwickeln sie Strategien und Aktionen. Wenn das Netzwerk aber erst einmal eine bestimmte Dynamik entwickelt hat, wird es durch Leidenschaft und individuelle Kreativität angetrieben und die Mitglieder finden immer extremere Möglichkeiten für ihren Kampf.


e: Diese Eskalation kann man sicherlich bei der Entwicklung des sogenannten Islamischen Staates beobachten.


MW: Wir leben in einer Zeit der Selbstorganisation, die durch das Internet ermöglicht wird. Im offenen Raum, den das Internet zur Verfügung stellt, gibt es keine Verantwortung. Man kann sagen, was man will, fühlen, was man will, und diese Emotionen verstärken sich selbst. Heutzutage können sich Gruppen selbst organisieren, ohne dass die Wahrnehmung eines größeren Ganzen oder einer Verantwortung dahinter steht. Jeder kann eine Organisation aufbauen auf der Grundlage der eigenen Werte und der eigenen Identität, die – wie wir jetzt allmählich merken – von Hass geprägt sein kann.
Bei dem Ausdruck „Selbstorganisation“ kommt es auf beide Teile des Wortes an. Alles Lebendige organisiert sich um eine Identität. Wenn man verstehen will, wie etwas seine Gestalt gefunden hat, muss man sich seine Identität anschauen und die Werte, die ihm zugrunde liegen. Es gibt von Hass und Furcht geprägte Werte, die Menschen in diese selbstorganisierten Hass-Gruppen treiben. Oder auf der anderen Seite Werte wie Mitgefühl, Liebe und Sorge um diesen Planeten, die Menschen dazu bringen, sich in Umwelt- oder Friedensgruppen zu engagieren. Zentral dabei ist immer ein Selbst mit Werten und einem Identitätsgefühl, das sind unsere tiefsten emotionalen Quellen.

Wir leben in einer Zeit der Selbstorganisation, die durch das Internet ermöglicht wird.


Wenn man sich einmal genau anschaut, wie eine Spezies in einem Ökosystem funktioniert, ist es wirklich schwer, eine Trennlinie zu ziehen zwischen, sagen wir mal, einem Kaninchen und seinem Lebensraum. Die Umwelt ist Teil seiner Identität. Man kann eigentlich nicht von einem Kaninchen als Individuum sprechen, denn das Ökosystem ist ein zusammenhängendes Ganzes. Das gilt auch für regionale Gemeinschaften: Man sieht die Wirkung, die man auf die anderen ausübt. Es gibt ein Gespür für etwas, das größer ist als ich selbst, an dem ich teilhabe, das über mich hinausgeht. Wer sich im Internet bewegt, ist isoliert, ein Individuum. So kann eine Abwärtsspirale entstehen, weil es keine Beziehung zu irgendetwas gibt, was meine individuellen Ängste und Sehnsüchte umgreift und übersteigt.


e: Welche Rolle hat der Leader in einem selbstorganisierenden Netzwerk?


MW: Früher habe ich gedacht, eine einzelne Führergestalt sei nicht notwendig. Aber wir Menschen brauchen Führer und je größer unsere Angst wird, desto mehr suchen wir nach einem Führer, der uns rettet. In einem solchen Terror-Netzwerk besteht die Rolle des Leaders darin, die Angst zu verstärken und eine Geschichte der Ereignisse zu formulieren, die die eigene Identität stärkt. Wir entscheiden uns, was wir wahrnehmen und dann benutzen wir diese sehr selektiven Wahrnehmungen und verstärken damit unsere Geschichte dessen, wer wir sind, was sich ereignet und wer wir demzufolge sein müssen. Ein „guter“, effektiver Führer arbeitet mit dieser Dynamik. Führergestalten haben die Rolle, die Identität durch die Auswahl der möglichen Wahrnehmungen am Leben zu erhalten. Und jedes Mal, wenn wir den Führer einer Terrorgruppe verfolgen, reagieren die Mitglieder, indem sie sich noch gewalttätiger organisieren.


e: Wie können wir auf diese Netzwerke von Hass und Terror reagieren?


MW: Die beste Strategie, Terrornetzwerke auszuschalten ist nicht, ihre Führer umzubringen, sondern die Quellen ihrer Wut zu entschärfen und sie nicht weiter zu nähren. Wenn wir neugierig und aufmerksam die Dynamik des Lebens tiefer verstehen, werden wir überraschende neue Fähigkeiten und Erkenntnisse entdecken und so besser darauf reagieren.
Die Führungspersonen, die ich heute respektiere, haben ein Gespür innerer Klarheit und Gewissheit in Bezug auf das, was richtig und wichtig ist. Mein Lieblingszitat dieser Tage stammt von dem amerikanischen Journalisten Chris Hedges: „Ich bekämpfe den Faschismus nicht, weil ich glaube, dass ich gewinne. Ich bekämpfe den Faschismus, weil er Faschismus ist.“ Die wirklich herausragenden Führungspersonen wissen genau, wofür sie kämpfen. Sie sind Kämpfer für den Geist der Menschlichkeit, und sie brauchen eine Menge Unterstützung.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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