Nicht-Wissen verbindet

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

April 23, 2015

Mit:
Wolfgang Sechser
Scott Peck
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 06 / 2015:
|
April 2015
Wir-Räume
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Gemeinschaft als gelebte Vielfalt

Das Gemeinschaftsprojekt Tempelhof ist seit seiner Gründung 2007 rasant gewachsen. Die etwa 140 Einwohner verbindet unter anderem ein Wir-Prozess, der das Herz der Gemeinschaft bildet. Wir haben mit Wolfgang Sechser, einem der Mitbegründer der Gemeinschaft, über die Wir-Kultur am Tempelhof gesprochen.

evolve: Der Tempelhof ist in kurzer Zeit zu einem viel beachteten Gemeinschaftsprojekt gewachsen. Kannst du uns einen Einblick in euer Gemeinschaftsleben und eure vielen Projekte geben?

Wolfgang Sechser: Der Tempelhof war früher ein Heim für schwer Erziehbare und dann eine Behindertenwerkstatt mit 18 Gebäuden. Als wir anfingen, hatten wir wenig theoretische konzeptionelle Ideen, sondern uns interessierten praktische Handlungen. Wir wollten aus der eigenen Leidenschaft heraus Dinge konkret umsetzen und uns dabei auf das „Wie-tun-wir-es“ konzentrieren. Der gesunde, liebevolle Umgang mit der Erde, den Tieren und Pflanzen war und ist uns sehr wichtig. So stand zu Beginn unserer Gründung z. B. das Projekt Landwirtschaft mit dem Wunsch, den Boden aufzubauen, einen natürlichen Lernort zu schaffen und uns selbst zu versorgen. Heute können wir uns im Jahresdurchschnitt zu 65 % selbst versorgen, im Sommer zu 95 %. Das umfasst die 100 Erwachsenen und 40 Kinder, die hier leben, und zusätzlich die rund 8000 Übernachtungen, die wir im letzten Jahr in unserem Seminarhaus hatten. Die alten Gebäude, zum Teil aus dem 17. Jahrhundert, mussten renoviert werden. Deshalb haben wir eine Schreinerei und eine Bauhütte gegründet, um die Gebäude zu sanieren. Im Zuge dessen ist dann ein anderes Wohnprojekt mit jungen Leuten entstanden, die mobil in einem Wagendorf zusammenleben wollten. Daraus ist wiederum eine Firma entstanden, die Zirkuswagen und modulare Holzhäuser baut. Daneben hat sich ein experimentelles Wohnfeld gegründet, wo nun im Sommer das erste Earthship in Deutschland entstehen wird, ein Vorbild für postindustrielle Bauweisen aus Recyclingmaterial.
Wir haben verschiedene Werkstätten, wie Schlosserei und Schneiderei, Verarbeitungsbetriebe, eine Bäckerei und eine Käserei, eröffnet. Es gibt einen Laden und in diesem Jahr auch ein Café. Es sind auch Jugendprojekte entstanden, die damit begannen, dass ein Therapeut einen jungen Menschen aus der Psychiatrie geholt hat, der dann einfach in der Gemeinschaft lebte und in kurzer Zeit eine unerwartete Besserung erfuhr. Dieser Heilungserfolg hat sich einige Male wiederholt, sodass einer der großen privaten Sozialträger in Deutschland, die Firma Wellenbrecher, mit Gemeinschaftsmitgliedern einen Stützpunktvertrag abgeschlossen hat. Auch unsere „Schule für freie Entfaltung“ kam aus der Initiative von Eltern und einer Lehrerin in der Gemeinschaft und auch hier nutzen wir das ganze Dorf – sozusagen wird das Dorf zur Schule. Die Kinder können ihren eigenen Impulsen im ganzen Dorf folgen.

e: Dieser kurze Überblick über einige eurer Aktivitäten ist sehr beeindruckend. Mit welcher Intention habt ihr das Projekt begonnen?

WS: Das Projekt Tempelhof entstand aus verschiedenen Strömungen. Zum einen Menschen, die auf verschiedenen spirituellen Wegen unterwegs waren und für sich gemerkt hatten, dass nur der spirituelle Übungsraum nicht mehr angemessen war, sondern der Alltag zur Übung werden sollte. Wir waren 2007 neun Gründer und wollten alle einen praktischen Raum, in dem nicht mehr die Theorie, sondern die unmittelbare Begegnung zwischen uns im Mittelpunkt steht. Wir wollten mit dem Tempelhof ein vollkommen vielfältiges Feld öffnen – im Hinblick auf Lebenswege und politische oder spirituelle Hintergründe. Wir wollten herausfinden was geschieht, wenn sich Menschen im Alltag offen, menschlich, unmittelbar und bewusst begegnen.

Gemeinschaften können ein wunderbarer Kristallisationspunkt für Bewusstseinsarbeit sein.

e: Was hält euch in dieser Vielfalt zusammen?

WS: Das kann ich gut mit dem Wir-Prozess, den wir hier als sozialen Verdichtungsraum anwenden, erklären. Dieser Wir-Prozess, der sich an der Gemeinschaftsbildung nach Scott Peck orientiert, war vor allem am Anfang ungemein wichtig, weil man darin sehr schnell in eine Atmosphäre des Nicht-Wissens kommt. Konkret sitzen wir dabei ein Wochenende lang in einem Kreis zusammen, wobei ca. 30 bis 50 Leute beteiligt sind. Wir bieten diesen Prozess achtmal im Jahr an und empfehlen, dass man viermal im Jahr daran teilnimmt. So gibt es auch immer wieder eine neue Zusammensetzung der Menschen, jenseits ihrer engeren Bezugsgruppen oder Projektbezüge. Für diesen Wir-Prozess gibt es keine Theorie, keinen Inhalt und niemanden, der vorgibt, wie er durchgeführt werden soll. Wir geben Kommunikationsempfehlungen, wie zum Beispiel „Ich bleibe bis zum Ende der Runde“, „Ich bin selbst verantwortlich für den Prozess“, „Ich schließe ein und nicht aus“, „Ich spreche von dem, was jetzt bei mir präsent ist“, „Ich gehe ein Risiko ein“. Oft entsteht dabei zunächst ein Chaos, in dem man zuerst die anderen und dann sich selbst nicht mehr hören kann. Man kann die Worthülsen, die in unserer konditionierten Kommunikation so gängig sind, nicht mehr ertragen. Dabei entstehen dann oft auch Gefühle der Resignation und Hoffnungslosigkeit. Wenn ich mich in diesem Prozess vollkommen gezeigt habe, mit Ängsten, Hoffnungen, Enttäuschungen oder Freude, dann entsteht ein leerer und unwissender Raum, der voller Möglichkeiten ist. Alles dies trifft auch auf unsere Gemeinschaft zu. Was uns zusammenhält ist, dass wir in diesen Momenten des Nicht-Wissens nicht flüchten und uns auf das zurückziehen, was wir schon kennen. Paradoxerweise verbindet uns gerade das entleerte Nichts und das daraus entstehende frische kreative Nicht-Wissen. In diesem Zustand werden die Menschen und Dinge relativ und ähnlich – und gleichzeitig in ihrem Sich-Zeigen aus dem Nichts heraus einzigartig.

e: Was ist für dich das Besondere an einem Leben in einer solchen Gemeinschaft?

WS: Gemeinschaften können ein wunderbarer Kristallisationspunkt für Bewusstseinsarbeit und spirituelle Entwicklung sein, weil wir uns in der täglichen offenen Begegnung nichts vormachen und die Schattenaspekte in uns nicht zudecken können. In unserer künstlich individualisierten Gesellschaft, die doch oft eher eine Anpassungsgesellschaft ist, wird unser Projekt einer bewussten Beziehungs- und Kommunikationskultur in radikaler Vielfalt ein großes Experiment. Darin ist es auch möglich, mit der eigenen Integrität zu experimentieren, sie so neu zu entdecken und zu verankern. Integrität unterscheidet sich für mich grundsätzlich vom gesellschaftlichen Individualismus, der nur eine andere Seite der kindlichen Anpassung in einer unreifen Kultur ist. Wenn jeder von uns zu seiner ureigenen Integrität und Kreativität findet, dann ist auch wieder eine Kooperation möglich, die aus einer zugewandten Menschlichkeit zwischen sich selbst bewussten Menschen wächst. Ich glaube, diese einfache, offene, transparente Menschlichkeit zeichnet die Gemeinschaft am Tempelhof aus.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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