Schein und Sein

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

April 17, 2014

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Ausgabe 02 / 2014:
|
April 2014
Weltinnenraum
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Unser Weltbild durchschauen

In Indien hat sich über Jahrtausende ein tiefes Verstehen unserer Innerlichkeit entwickelt. Pawan Gupta beschreibt aus seiner Erfahrung die Besonderheiten dieser Sichtweise und kritisiert moderne westliche Denkansätze.



Der moderne Mensch hat neben der (gesprochenen oder geschriebenen) Sprache fast alle anderen Möglichkeiten, Wissen zu erwerben, verloren. Daher hat der moderne Mensch eine Neigung entwickelt, alles durch die Logik und durch Worte zu verstehen. Dahinter steht die Annahme, die Logik sei die einzige Möglichkeit, zu verstehen und Wissen zu erwerben. Aber Worte sind nur symbolische Repräsentanten für den Sinn von etwas. Dieser wirkliche Sinn oder die Bedeutung eines Objekts ist die beobachtete Wirklichkeit. Dieser Sinn existiert (ob wir ihn verstehen oder nicht). Wörter werden konstruiert, um den Sinn zu verstehen.

In der Welt der Wörter

Wörter tragen oft verborgene Annahmen (Konditionierungen, die aus dem Umfeld stammen, in dem wir leben), die an sie angeheftet sind und uns daran hindern, die Wirklichkeit (den Sinn des Objekts) zu sehen. Statt mit dem Sinn selbst zu leben, existieren wir heute mehr und mehr in der Welt der Wörter mit den in ihnen eingebetteten Annahmen und Überzeugungen. Das liberale Denken, das die Welt heute beherrscht, ist voll von solchen Worten. Deutliche Beispiele sind Wörter wie „Entwicklung“, „Fortschritt“, „Demokratie“, „Gleichheit“, „wissenschaftlich“ usw. Sie werden kaum jemals daraufhin untersucht, was sie tatsächlich bedeuten. Man hat geradezu Angst davor, auch nur die Annahmen hinter diesen Wörtern infrage zu stellen. Diese Wörter werden nachgerade als heilig betrachtet, wie es früher das geschriebene Wort in verschiedenen Heiligen Schriften war. Wir können beobachten, wie massenhaft Meinungen konstruiert werden, die so weit führen, dass das Opfer (von Ausbeutung) zum willigen Komplizen im ausbeuterischen System wird.

Wir leben heute mehr und mehr in der Welt der Wörter mit den in ihnen eingebetteten Annahmen und Überzeugungen.


Die Vorherrschaft der englischen Sprache in Indien hat eine Menge Schaden angerichtet, indem sie indische Kategorien zerstört oder ihr fremde Kategorien aufgezwungen hat. Das indische Wort „darshan“ wird auf Englisch als philosophy wiedergegeben. Das ist aber nicht dasselbe. Darshan heißt wörtlich sehen – die Dinge (die Wirklichkeit) sehen (verstehen, erfassen), wie sie sind. Mit anderen Worten: Darshan heißt, die WIRKLICHKEIT sehen.
In Indien legten die Meister (die Sehenden) immer Wert auf Erfahrungswissen (anubhav), das nicht durch Sprache und Logik beschränkt ist, und versuchten dieses dann anderen durch Worte zu vermitteln, wobei ihnen die Begrenztheit dieser Methode bewusst war. Die Zuhörer wurden ermuntert, diese Worte nicht einfach anzunehmen oder zu glauben, sondern sie als Vorschläge zu nehmen, über die sie nachsinnen und so die Wirklichkeit selbst erfahren konnten. Es gibt einen Spruch, der besagt: „Verlass dich auf die Lehre, nicht auf den Lehrer; verlass dich auf den Sinn, nicht auf das Wort; verlass dich auf die endgültige Wahrheit, nicht auf die vorläufige.“

Die Wirklichkeit sehen

Der Mensch ist der Beobachter (drashta – der Sehende) und das Objekt (berührbar oder nicht), das innen und/oder außen liegen mag, ist das, was gesehen oder beobachtet wird. Das, was beobachtet wird – das Objekt, das Gesehene –, wird drishva genannt. Zwischen dem Sehenden (drashta) und dem Gesehenen (drishva) entsteht die individuelle Wahrnehmung (drishti). Diese Wahrnehmung ist gefärbt durch die eigenen Prägungen und die eigene Unwissenheit. Man könnte gewissermaßen sagen, dass es auf dem spirituellen Weg darum geht, diese Prägungen zu überwinden, und gyaan (Wissen) dient dazu, einem (selbst und allen anderen) zu helfen, die Wirklichkeit zu sehen – so, wie sie ist. Dieses Sehen der Realität – so wie sie ist – wird darshan genannt. In dem Moment, in dem jemand die Dinge sieht, wie sie sind, kommen sowohl Akzeptanz als auch Verantwortlichkeit ins Spiel. Man muss nichts tun, um verantwortlich zu sein. Es geschieht einfach.
In gewöhnlichen Menschen wie uns, wird das Denken nicht von Erfahrungswissen geleitet, sondern von Worten, Konditionierungen aus der Vergangenheit und Unwissenheit, die wiederum unser Fühlen entstehen lassen. Aber wenn wir in der Lage wären, die WIRKLICHKEIT so zu sehen, wie sie ist, dann wären unsere Einschätzungen der Wahrnehmungen (hona) richtig und würden somit auch die richtigen Gefühle in Übereinstimmung mit der wahren Natur der Dinge entstehen lassen. Diese „rechten Gefühle“ werden als swa-bhava bezeichnet. Sie sind in Übereinstimmung mit der wahren Natur. Wenn wir diese Übereinstimmung verlieren, erfahren wir negative Gefühle. Wir bezeichnen sie als negative Gefühle, aber eigentlich sind sie die Abwesenheit natürlicher Gefühle (Vertrauen, Respekt, Fürsorge, Dankbarkeit, Liebe usw.). Wenn wir in rechten Gefühlen leben, dann erfahren wir tiefes Wohlbefinden, wir sind in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit.

Vom Verstehen zum Handeln

Wenn man die Wörter bhav oder hona ins Deutsche übersetzt, dann bezeichnen sie das, was jederzeit im Jetzt geschieht, ohne Veränderung. Fühlen wird davon abgeleitet als bhavana bezeichnet. Es geschieht etwas, es wird vom Bewusstsein erkannt und dann analysiert (hier beginnt das Denken). Diese Analyse beruht auf unserer Konditionierung und dem Wissen aus der Vergangenheit (sei es nun richtig oder falsch) und lässt Gefühle entstehen. Bei den meisten Menschen geschieht das automatisch, fast unbewusst. Die indische Tradition betont deshalb, dass es wichtig ist, uns dieser Analyse und ihrer Grundlage – der Konditionierung – bewusst zu sein. Andererseits beeinflussen auch die Gefühle die Gedanken, was sich in unserem Verhalten und Handeln zeigt. Wenn die Gefühle „nicht richtig“ sind, das heißt, sie basieren nicht auf dem rechten Verstehen (der Wirklichkeit), dann wird auch das Verhalten oder Handeln nicht angemessen sein. Fühlen und Denken stehen in einer engen und untrennbaren Beziehung, wobei sie zwei getrennte Aktivitäten des Bewusstseins bilden.
Um jeden (inneren oder äußeren) Zustand zu verstehen, müssen wir sthiti (was ist, was hinter den Dingen liegt) und gati (das Manifeste, wie die Dinge erscheinen) erkennen. Wenn der Sinn das Sein (sthiti) ist, dann ist das Wort das Manifeste (gati). Sthiti ist unser Sein. Gati ist unser Erscheinen. Heute bestärken uns die Bildung und alle anderen Systeme darin, nur auf die Erscheinungen und das Manifeste (gati) zu achten. Das Sein (sthiti) wird vollkommen ignoriert. Unsere Gefühle leben in unserem Sein, der Welt aber zeigen wir unser Erscheinen. Wir können also in unserem Erscheinen Respekt zeigen, aber in unserem Sein gar keinen Respekt fühlen. In der natürlichen Ordnung leben wir, wenn das Erscheinen (gati) aus dem Sein (sthiti) kommt. Aber heute sind wir uns oft nur der Erscheinungen, dem Äußeren gewahr und verlieren die Verbindung mit dem Inneren, mit der wirklichen Welt. Daraus entstehen Unwahrheit, Heuchelei und letztendlich die Misere, in der wir uns als Menschhit befinden.

Author:
Pawan Gupta
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