Schmerz macht sehend

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Kolumne
Publiziert am:

April 17, 2014

Mit:
Rudolf Steiner
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 02 / 2014:
|
April 2014
Weltinnenraum
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Das Scheitern eines Projektes, in das man viel investiert hat, die Demütigung durch einen Menschen, den man schätzt, gar der Verlust eines Geliebten – solche Ereignisse schmerzen. Und oft ist es nicht nur ein kurz aufflackernder Schmerz, einer, den man vielleicht qua Entschluss beenden könnte, sondern ein Schmerz, der einen für eine gewisse Zeit begleitet und die Stimmung grundiert. Vorausgesetzt natürlich, ich komme im Umgang mit der betreffenden Situation überhaupt so weit, den Schmerz zuzulassen anstatt ihn zu betäuben, unerkannt hinauszuprojizieren oder ihn sonstwie zu vermeiden.
Ich hatte das Seminar gut vorbereitet und es fing auch gut an. Doch nach der Hälfte der Zeit war deutlich, dass die Teilnehmer sich abwandten, nur wenige waren noch bereit, sich an dem, was ich vorschlug, zu beteiligen. Ich bemerkte das und kam doch nicht heraus aus dem, was da jetzt schief lief. Beim Abschied zogen die Teilnehmer gesenkten Hauptes an mir vorbei.
Es dauerte eine Weile, bis ich mir mein Scheitern wirklich eingestehen konnte. Allmählich erst legte sich die Schicht frei, in der nicht mehr die Teilnehmer schuld waren und ich die Verantwortung nur noch bei mir suchen konnte. Vielleicht fängt dann erstmal ein Grämen an, eine Unzufriedenheit über das Misslingen, und ein Rationalisieren, das sich in den Spuren von Wenn (ich hier eine bessere Einführung gemacht hätte) und Dann (wäre alles anders gekommen) im Kreise dreht.
Und dann irgendwann kommt das Bedauern, die Trauer, der Schmerz darüber, dass es war wie es war und ich es nicht besser gekonnt habe. Der Schmerz legt sich wie eine Aura um die Erinnerung an das Ereignis, hüllt es in eine Atmosphäre, in der nun allmählich jenseits aller Rationalisierungen etwas sichtbar wird: ein Mangel, ein Ungenügen in mir selbst, dem ich aber nicht urteilend gegenüber stehe, sondern zunächst einmal tastend, fragend, behutsam, auch durchaus sorgfältig. Und in diesem Tasten zeigt mir der Schmerz – als ob von ihm ein Licht ausginge – nach und nach, was zu tun ist, und was ich mir nie hätte ausdenken können. Ein rein rationaler Umgang mit der Situation hätte nie dahin geführt, hätte mich wohl gar nicht wirklich berührt.

Der Schmerz, den ich trage, anstatt in ihm zu versinken, kann ein Licht entfalten.


Aber nicht immer ist man es tatsächlich selbst, auf den das Schmerzlicht fällt. Jemand hatte mich öffentlich bloßgestellt, ich fühlte mich gekränkt und verletzt. Der Schmerz blieb und ich schaute immer wieder auf diese Demütigung zurück, bis sich mir irgendwann zeigte: die Ursache für diese Kränkung lag gar nicht bei mir. Ohne den Schmerz wäre nun vielleicht eine Reihe abfälliger Urteile über den Anderen dran gewesen. Durch den Schmerz dieser kränkenden Berührung hindurch aber begann ich den anderen plötzlich anders zu sehen, tiefer möchte ich sagen, und wirklicher. Im Tragen des eigenen Schmerzes über die Kränkung kann ich auch den anderen, der mich kränkt, mittragen, kann ihn und auch die in der Kränkung liegende Verbindung sehen und halten, ohne Abfälligkeiten, Distanzierungen oder Zurückweisungen. Dieser Mensch ist mir seither in einer ganz eigenen Weise nah.
Rudolf Steiner, der ja das Denken schätzte und auf dem Gebiet des Fühlens vielleicht kein Spezialist war, hat doch immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass das Fühlen auf dem Weg zur Nondualität eine unersetzliche Rolle spielt. Nicht das Fühlen, in dem ich mich mit meinem eigenen subjektiven und irgendwie beliebigen Erleben in mich selbst zurückziehe, sondern ein Fühlen, das sich quasi nach außen richtet, durch das ich das, worauf ich schaue, inniger, verbundener wahrnehmen kann. Das bloße Denken, Ansehen und Beurteilen bleibt immer distanziert. Erst durch das Fühlen kann eine wirkliche Verbindung zu etwas entstehen, bin ich wirklich beteiligt, involviert und auch verantwortlich für das, was dann geschieht. Das Fühlen ist die Brücke zu einem authentischen Handeln und wird so zur Grundlage einer Inspiration, die mir aus der Nondualität heraus die Tiefen meiner Verbindung mit der Welt zeigt.
Der tiefste Schmerz entsteht wohl durch Verlust, wenn ein naher Mensch plötzlich nicht mehr da oder unerreichbar ist. Der Schmerz, den ich trage, anstatt in ihm zu versinken, kann dieses eigenartige und kaum zu beschreibende Licht entfalten, das mir nicht nur das Verlorene, sondern auch die Wunde zeigt, die der Verlust in meinem Lebensgefüge hinterlässt. Es ist ein inneres Tasten, wie es sich denn lebt mit dieser offenen Stelle, ein innerer Schwebezustand, der in gewisser Weise in sich selbst ruht, weil er sich auf nichts richten kann. Er zeigt mir, was ich im Innersten bin: ohne äußeren Halt, und zugleich doch mit dem unendlichen Potential, mich mit allem zu verbinden.
Das Gefühl, das ich in die Welt leuchten lasse, verwandelt mein ganzes Verhältnis zur Welt, verwandelt sie mir an. Der Schmerz zeigt das vielleicht am unmittelbarsten.

Author:
Anna-Katharina Dehmelt
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