Tastende Wahrnehmungen

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Essay
Publiziert am:

April 17, 2014

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Ausgabe 02 / 2014:
|
April 2014
Weltinnenraum
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Wie Denken zu Schöpfung wird

Wenn wir die Etymologie des Wortes Fühlen betrachten, so finden wir als Grundbedeutung „Tasten, Streicheln“, das seit dem 18. Jahrhundert ein Tasten nicht nur im körperlichen, sondern auch im seelischen Sinne meint. Das Gefühl ist danach Gewähr für Begegnung: Was ich tasten kann, was ich spüren, was ich fühlen kann, das ist wahr, das existiert, das ist wirklich. Diese Etymologie kann für Aspekte des Fühlens aufhorchen machen, die uns im inneren Beobachten und Nachspüren eine ganz andere Seite des Gefühls offenbaren.

Im Strom des fühlenden Denkens

Wenden wir diese fühlend-innere Beobachtung auf das Denken an, so zeigt sich, dass auch das Denken existenziell auf das Fühlen angewiesen ist. Das Denken erfasst seinen Inhalt fühlend, lang bevor wir überhaupt zu Begriffen gekommen sind. Bevor ich einen Gedanken ausformuliere, bin ich schon immer in einem begriffsfreien Raum „abtastend“ tätig. Das kennt jeder, der einen Beitrag zu einer Diskussion geben, der einen Vortrag vorbereiten oder einen Aufsatz schreiben will. Man orientiert sich innerlich in eine noch zu erkundende, unsagbare, aber befühl- und betastbare Region. Solange man sich bei diesem inneren Tasten am Ball weiß, solange quillt der schöpferische Gedankenprozess, und solange redet man auch nicht bloß ÜBER eine Sache. Ein Zuhörer merkt sofort, ob ein Redner aktuell seinen Gedanken entwickelt (oder eben auch nicht). Der Vortragende kann sogar aus Versehen ein falsches Wort gewählt haben, solange er beim Denken geistesgegenwärtig spürend und tastend tätig ist, kann ich als Zuhörer mitgehen. Solange sich das Denken an der Sache FÜHLT, die es erfassen will, ist man auf Tuchfühlung mit dem, worum es geht. Damit macht das Fühlen dem Denken den Rang streitig, wer von beiden nun am Anfang jeder Wissenschaft, jeder Erkenntnisarbeit steht.

Indem ich den Vogelgesang im fühlenden Mittvollziehen innerlich erlebe, entsteht eine ganz neue Verbindung zwischen mir und der Welt.


Was oder wen betastet das fühlende Denken? Beim Schreiben dieser Zeilen versuche ich meine Gedanken zu fassen. Jede Beschreibung, jeder Begriff, den ich wähle, kann nur hinweisenden (und keineswegs definitorischen) Charakter tragen; denn das, um was es geht, ist „unsäglich“, wie Rilke sagen würde. Begriffe sind wie eine Exkursionsanleitung: Wenn du dich da und dort hin orientierst, dann kannst du das und das erleben. Ich halte also einen bestimmten Kurs im Denken, gleichsam orientierungslos orientiere ich mich doch. Und um im Bild zu bleiben: Da ich „Kurs halte“, gibt es da auch ein – wassergleiches – Medium, in dem ich mich bewege. Erst fühlt es sich so an, als ob mir der fließende Strom des Denkens Widerstand leistet. Aber allmählich wird dieses denkend-fühlende Tasten bewusster. Ich begleite bewusst das Lebendige des Denkens und aus dem Denkstrom wird ein Denkraum, in den hinein ich zu lauschen beginne. Dann scheint mir das, was ich denken will, zu helfen: Mir kommen passende Gedanken. Mein Denken bewegt sich nicht mehr gegen den Strom, sondern mit ihm. Ja, ich bringe den Gedankenstrom, dem ich folge, nun selbst hervor. So kann das innere Tasten und Fühlen Qualitäten eines inneren Sehens, Hörens, eines schöpferischen Prozesses annehmen.

Wesensbegegnung in der Natur

Im fühlenden Denken durch ein fremdes Wesen gestaltet zu werden ist Schlüssel, ist Brücke, um in der Zuwendung zur Sinneswelt das Fühlen als Wahrnehmungsorgan für eine spirituelle Naturerkenntnis anwenden zu können. Wie ich beim Denken eines Gedankens eine spezifische Himmelsregion betreten habe, die ich fühlend-besinnend erkunde, so betrete ich auch durch jede sinnliche Wirklichkeit (ob Farbe oder Geruch, ob Kirchenraum oder Mode-Shop, ob Leberblümchen oder Rotkehlchen, ob Alpweide oder Meeresrauschen) eine solche Region, die ich nun wieder fühlend-besinnend erforschen kann. Zur Erkenntnis bedarf es auch hier meines kreativen Engagements: Um das Wesen zu erfassen, um es mir zu eigen zu machen, bedarf es einer fühlend-mitvollziehenden Tätigkeit.
Wie Sternschnuppen in der späten Nacht, nicht sicht-, aber hörbar, beginnen früh morgens die Vögel zu singen. In regelmäßigen Wiederholungen ertönen diese vom Himmel herabziehenden Klangfäden, die uns immer wieder aus neuen Richtungen umweben. Der eine Klang perlt schwebend aus höchsten Höhen herab, verklingt, löst sich auf, ehe er die Tiefen der Erde erreicht. Die andere klingt kristallklar und ist eindeutig gegliedert. Hier sprechen zwei vollkommen verschiedene Wesen, erzählen in der Art ihres Erscheinens von sich selbst. Jedes von ihnen eine eigene Welt, ein eigener betretbarer Raum. Die eine wie ein Innenraum, in dem man sich träumend verlieren kann. Die andere gegenständlich, lichthaft, weckend. Von solchen Wesen erzählt die späte Nacht am frühen Morgen: von einer Rotkehlchen- und von einer Hausrotschwanzwelt.
Beginnt das Denken, seine eigene Basis im Fühlen zu begreifen, dann kann das Fühlen zum Erkenntnisorgan für das Wesenhafte in der Welt entwickelt werden. Indem ich den Vogelgesang nicht nur als etwas „da draußen“ höre und analysiere, sondern im fühlenden Mittvollziehen auch innerlich erlebe, entsteht eine ganz neue Verbindung zwischen mir und der Welt. Ihr Wesen beginnt sich in mir auszusprechen, und mein Fühlen hat sich auf dem Weg dahin zu einem Wahrnehmungsorgan für die objektiv-wesenhaften Eigenschaften der Welt verwandelt. Für Eigenschaften, die mir zeigen, dass Mensch und Natur zutiefst aufeinander bezogen sind.

Author:
Hans-Christian Zehnter
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