Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
October 29, 2014
Bill Viola und seine Frau Kira Perov sind in der zeitgenössischen Kunst für ihre Videoarbeiten bekannt, die eine fesselnde Schönheit ausstrahlen und die volle Aufmerksamkeit des Betrachters beanspruchen. 2014 wurde ihnen eine große Retrospektive im Grand Palais in Paris gewidmet, sie installierten eine Auftragsarbeit in der St. Pauls Kathedrale in London. Ständig stellen sie Einzelarbeiten in zahllosen Galerien und Museen in Europa und den USA aus. Diese weltweite Anerkennung ist das Resultat eines langen Weges, auf dem sie die Grenzen der Videokunst erweiterten. Evolve sprach mit dem Künstlerpaar in ihrem Studio in Kalifornien.
evolve: Wie würden Sie das Hauptanliegen ihrer Kunst beschreiben?
Bill Viola: Ich möchte, dass die Menschen die Dinge in ihrer Tiefe erfahren. Tiefe ist für mich das Wichtigste. Darin liegt die Essenz. Tiefe ist etwas, das der Welt heute oft fehlt. Es ist schockierend zu sehen, wie uns zum Beispiel die Werbung vereinnahmt. Mein Eindruck ist, dass die Menschen heute diese spirituelle Dimension wieder ernster nehmen; es gibt eine Sehnsucht nach Tiefe. Den Mangel an Tiefe in der Postmoderne finde ich einfach schrecklich. Aber wir scheinen an einem Wendepunkt angekommen zu sein. Etwas Neues zeichnet sich am Horizont ab und ich denke, es wird ein großer Wandel sein. Ein Grund dafür sind die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, wie etwa der Klimawandel. Wir müssen nun erkennen, dass wir nicht getrennt sind von dieser kleinen Kugel im Kosmos und wir können nicht einfach vor den Problemen flüchten. Heute sind wir in der ganzen Welt so umfassend miteinander verbunden; wir sehen den Globus als ein Ganzes. Wir leben in einer außergewöhnlichen Zeit, weil wir merken, dass die Erde krank ist, sie ist in Gefahr. Mit meiner Kunst will ich Menschen aufwecken. Viele junge Leute sind sich unserer momentanen Situation bewusst. Wir sind an einem wichtigen Punkt unserer Geschichte angekommen.
Wissen Sie, jeder von uns hat diesen weiten Raum in sich, in unserem Körper, in unserer Seele. Diese Tiefe ist grenzenlos und es gibt nichts Mächtigeres auf diesem Planeten als das Zusammenkommen der eigenen Tiefe mit der Tiefe anderer Menschen. Das Erstaunlichste an uns ist nicht unsere Individualität, an der wir so sehr festhalten. Wenn wir uns den Menschen wirklich anschauen, erkennen wir, dass unsere größten Errungenschaften aus gemeinsamer Anstrengung kommen. Wenn Menschen zusammenkommen, um etwas zu tun und alle einer Intention folgen, dann können wir alles erreichen.
Kira Perov: Die Ausstellung im Grand Palais in Paris haben insgesamt 260.000 Menschen gesehen, das sind etwa 2.200 Besucher am Tag. Die durchschnittliche Zeit, die sie in der Ausstellung verbrachten, waren zweieinhalb Stunden. Nicht selten blieben sie bis zu vier Stunden. Das gab ihnen viel Zeit zur Reflektion, die zu einem Erwachen führen kann. Denn eine der stärkste Wirkungen beim Ausstellen unserer Arbeiten ist, dass sich die Menschen Zeit nehmen, um langsamer zu werden, sie lassen sich in die Arbeiten hineinziehen und kommen so auch in ihr eigenes Inneres.
In das Selbst sehen
e: Ihre Videos dauern oft zehn Minuten oder länger. Alles wird extrem verlangsamt, so dass sich das Video manchmal kaum bewegt. Welche Absicht liegt hinter dieser Entschleunigung?
BV: Damit der Betrachter tiefer gehen und in das Selbst blicken kann. Diese Arbeiten verlangsamen den Betrachter, damit er wirklich wahrnehmen kann, was er sieht, und es hereinlassen kann. Schon als Kind war mir alles zu schnell, ich hatte das Gefühl, dass ich damit nicht zurechtkam. Ich wollte die Dinge genauer betrachten. Wer sind wir? Was heißt es, Schmerzen zu spüren? Oder Freude, Wut, Angst? Deshalb haben wir in der Serie „The Passions“ diese Emotionen langsam und in ihrer Tiefe betrachtet. Die Schauspieler wurden gebeten, emotionale Bögen zu zeigen, die aufsteigen und übermäßig stark und intensiv werden. Wir wollten in diese Emotionen tief hineingehen und ihre Bewegung und Entwicklung beobachten. Nachdem wir die Serie „The Passion“ gefilmt hatten, standen allen Tränen in den Augen. Es war sehr bewegend, weil wir so tief in die menschliche Natur blicken konnten.
e: Einige Ihrer Arbeiten wie „The Greeting“ sind von den Alten Meistern beeinflusst. Wie finden Sie diese Verbindungen?
BV: „The Greeting“ war eine der merkwürdigsten Erfahrungen meines Lebens, weil ich wirklich nicht wusste, was ich tat.
KP: So arbeitest du ja eigentlich immer.
BV: Stimmt, so arbeite ich eigentlich immer. Es ist so, als gäbe es zwei Teile in mir: Der eine spricht und tut alle möglichen Dinge, aber dann gibt es noch einen tieferen Teil in mir und aus dieser tieferen Quelle schöpft meine Kunst.
Ich sah also eines Tages ein Bild dieses wunderbaren Gemäldes von Jacobo da Pontormo in einem Kunstbuch in einem Buchladen. Es war „Der Besuch“, es zeigt vier Frauen und stellt dar, wie die Heilige Jungfrau Maria ihre Cousine St. Elisabeth besucht. Ich war zwar Künstler, aber ein Videokünstler, und zu dieser Zeit machte ich einen großen Bogen um die alten Meister. Aber etwas in mir sagte: Nimm das Buch mit! Ich kaufte es und legte es auf meinen Schreibtisch und schaute es lange Zeit nicht mehr an. Eines Tages fuhr ich von meinem Studio zurück und ich musste an einer roten Ampel halten. Es war sehr windig und an einer Straßenecke sah ich drei Frauen im Wind stehen. Dann wurde es grün und ich fuhr weiter. Aber sofort als ich wieder zuhause war, nahm ich das Buch über Pontormo in die Hand und schaute mir „Der Besuch“ an. Aus diesem Erlebnis entstand „The Greeting“ und es war unglaublich, was für eine Verbindung zwischen dem alten Gemälde und den langsamen Gesten in dem neuen Werk entstanden.
Der Geist des Menschen
e: Video ist ein technisches, kaltes Medium verglichen zum Beispiel mit einem Gemälde oder einer Zeichnung, aber Ihre Arbeit ist voll Wärme, Farbe und Menschlichkeit. Wie ist das möglich?
KP: Wir benutzen Videotechnik als Medium, nicht als Aussage. Das ist ein großer Unterschied. Manchmal erfordert eine Arbeit eine große Projektion und ein anderes Mal einen kleinen LCD-Monitor, aber wir gehen sicher, dass die unnötigen materiellen Elemente wie etwa die Kabel nicht sichtbar sind. Wir möchten, dass nichts die intensive Erfahrung des Betrachters beeinträchtigt. Wenn wir ein Video aufnehmen, lassen wir nicht erkennen, mit welcher Technik es aufgenommen wurde, es ist nicht nötig, sich auf eine Methode zu fokussieren und dadurch bewahren wir das Geheimnis der Arbeit.
Wir Menschen erweitern uns selbst ins Universum, um neue Ausblicke, neue Ideen, neue Gedanken zu finden, die uns weiterbringen.
BV: Für mich ist diese Vermittlung von Menschlichkeit eigentlich das Wichtigste. Vor langer Zeit empfahl mir jemand ein Buch, „Die Untergegangen und die Geretteten“ von Primo Levi. Darin las ich, was er und seine Brüder und Schwestern taten, die im Vernichtungslager der Nazis auf den Tod am nächsten Morgen warteten … Sie erzählten sich Witze! Menschen werden alles tun, um aus dem Dunkel zu entkommen. Dass Menschen dazu in der Lage sind, im Angesicht ihres Todes, hat mich tief berührt. Bei so etwas kommen uns die Tränen, aber es sind positive Tränen, weil wir den menschlichen Geist spüren. Mit dieser Menschlichkeit, mit unserem Herzen, müssen wir uns verbinden. Wir sind deshalb so neurotisch, weil uns gesagt wurde, wir sollten uns allein auf unseren Kopf verlassen. Aber es führt zur Katastrophe, wenn allein unser Kopf unser Handeln kontrolliert. Wir müssen Zugang zu den tieferen Schichten in uns finden.
e: Würden Sie sagen, dass Sie religiöse Kunst machen?
KP: Was ist religiöse Kunst? Historisch gesehen gab es Werke, die ein Dogma zum Ausdruck brachten und andere waren Ausdruck einer tiefen Inspiration. Deshalb können wir bestimmte „religiöse“ Objekte aus einer Kultur betrachten und eine tiefe Verbundenheit spüren. Diese Objekte sind aber nicht religiös, sondern vielmehr spirituell. Mich sprechen beispielsweise die byzantinischen Ikonen ganz unmittelbar an. Warum ist das so? Weil so ein wunderbares Gemälde einer Madonna mit dem Jesuskind die Ewigkeit repräsentieren kann. Ein begnadeter und inspirierter Künstler kann ein ikonisches Bild für die gesamte Welt schaffen, indem er eine Mutter mit Kind malt.
BV: Solche Kunstwerke beginnen im Inneren und sie entfalten sich langsam, wie eine Blume, die sich öffnet, so dass wir die Energie spüren können. Wir denken, wir sehen etwas außerhalb von uns, aber dann gehen wir tiefer und tiefer und plötzlich ist es in uns und nicht mehr außen. Das ist der Schlüsselmoment, wenn es so tief nach innen geht, ins Herz. Dann ist eine wirkliche Verbindung entstanden.
Unter der Oberfläche
e: Herr Viola, Sie hatten als Kind eine sehr prägende Erfahrung, bei der sie fast ertrunken wären, können Sie uns mehr darüber sagen?
BV: Ich war sechs Jahre alt und spielte mit meinem Cousin im Lake George in der Nähe von New York. Wir waren auf einer Plattform im See und niemand hatte meinem Onkel gesagt, dass ich nicht schwimmen konnte. Mein Cousin sprang also in den See, in einen großen Reifen und schwamm davon, ich sprang hinterher in den zweiten Reifen, rutschte aber durch das Loch und sank direkt auf den Grund des Sees. Dort bot sich mir der schönste Anblick, den ich je in meinem Leben gesehen habe. Ich saß einfach da unten, öffnete meine Augen und sah blau-grünes Licht. Ich sah Fische und die Blätter der Pflanzen, die sich im Wasser wiegten. Als Kind war ich sehr still, also saß ich einfach dort, völlig verzaubert. Dann kam plötzlich mein Onkel und holte mich heraus. Aber nie werde ich dieses Bild vergessen. Ich sehe es eigentlich ständig vor meinem geistigen Auge, wie ein Paradies. Dieses Erlebnis zeigte mir, dass es mehr gibt als die Oberfläche des Lebens, dass das Wirkliche unter der Oberfläche liegt.
e. Deshalb wurde Wasser so wichtig in Ihrer Kunst?
BV: Ja, und als ich zum ersten Mal eine Videokamera sah, war es so, als ob diese Erfahrung des Wassers wieder zu mir zurückkam – in der Form von Elektronen. Damals waren Kameras noch riesig und wenn man damit filmte, war ein blaues Licht zu sehen. Als ich es als Student zum ersten Mal sah, hatte ich das Gefühl, die Schönheit, die ich als Kind empfunden hatte, wiedergefunden zu haben. Man könnte auch sagen, dass das Video selbst wie elektronisches Wasser ist, denn die Elektronen fließen. Wir können diesen Fluss wie den Fluss des Wassers messen. Auch unser Gehirn und unser Körper sind mit Elektrizität verbunden. Wenn wir sprechen und uns bewegen, wird dies durch die elektrischen Wellen im Körper möglich. Die Synapsen in unserem Gehirn werden aktiviert. Zwischen den Neuronen in unserem Gehirn ist eine Lücke, es sind die Synapsen, durch die die Energie fließt. Diese Lücken mit leerem Raum sind sehr wichtig. Die buddhistischen Meister wissen das schon lange. Unser Zen-Lehrer in Japan sprach immer über Leerheit und ich wusste anfangs nicht, was er damit meinte. Erst dachte ich, er meinte die Tempel, die sehr leer waren und in denen es sehr viel Raum gab, aber dann merkte ich, dass er über etwas Reales sprach, das wirklich existiert, den Raum zwischen allen materiellen Objekten. Und darin existieren wir. Wir existieren im Zwischenraum, in den leeren Räumen der Wirklichkeit.
Die Schönheit des Unbekannten
e: Die Schönheit, die Sie in diesem Erlebnis erfuhren, kann auch der Betrachter in vielen Ihrer Arbeiten spüren, in denen Sie Wasser verwenden.
BV: Ja, es geht um die Schönheit. Schönheit ist tief. Schönheit ist notwendig. Wir brauchen Schönheit. Als ich meine Eltern beim Sterben begleitete, spürte ich auch diese tiefe Schönheit. Ich war bei ihnen, hielt ihre Hand, mehrere Tage lang, was für mich einen tiefen spirituellen Prozess auslöste. Es war wunderschön, traurig und geheimnisvoll. Ich konnte kaum glauben, was ich sah. Wie ist das möglich? Dieser Mensch, der atmet, lebt und spricht wird zu nichts? Was auf dem Bett lag, nachdem sie gestorben waren, war nicht mehr der Mensch, den ich gekannt hatte.
e: Mit dem Tod werden wir mit dem Absoluten konfrontiert, was auch das Herz all unserer spirituellen Sehnsüchte ist.
BV: Und wir entwickeln ein tiefes Gespür für das, was wir nicht sehen können. Etwas umgibt uns ständig. Wir können es nicht sehen, nicht riechen, nicht berühren, aber es ist da. Und wir wissen, dass es da ist. Das ist im Grunde die Quelle meiner Kunst.
Es gibt einen Ausspruch von Johannes vom Kreuz: „Das menschliche Wissen kann es nicht verstehen, erfahren oder beschreiben. Nur wer selbst hindurchgegangen ist, weiß, was es bedeutet, hat aber keine Worte dafür.“ Das fasst für mich wunderbar zusammen, was es bedeutet, Mensch zu sein und was unsere Aufgabe ist: Das Geheimnis aufzudecken, das uns umgibt, denn hieraus entsteht Kreativität. Kreativität entsteht aus dem Unbekannten. Es hat keinen Namen, kein Gesicht, keine Gestalt. Aber plötzlich geht jemand in dieses Unbekannte und sucht im Dunkel und findet etwas. Wir Menschen erweitern uns selbst ins Universum, um neue Ausblicke, neue Ideen, neue Gedanken zu finden, die uns weiterbringen. Denn es ist das Wichtigste für uns, dass wir weitergehen.