Tod mit Wiedergeburt
Das Schumacher College wird »ausgewildert«
November 7, 2019
Seit vielen Jahren lebt Andreas Valentien in Dresden. Aufgewachsen in einer Reform-Kommune in Schottland und später praktizierender Arzt in Baden-Württemberg, zog es ihn in den Osten, weil er hoffte, im »anderen« Deutschland Spuren der gemeinschaftlichen Utopie zu finden, die er als Jugendlicher so schätzen gelernt hatte. An der Grenze zwischen Ost und West versucht er, Wege des Verstehens zu gehen.
Vor Jahren wagte ich einen Schritt in meinem Leben, den damals viele mit Unverständnis kommentierten. Aus einem gut situierten Leben als Allgemeinarzt mit eigener Praxis am Bodensee zog ich 2003 nach Dresden in eine halbsanierte Villa. Ich erinnere mich noch an mein Vorsprechen bei der Kassenärztlichen Vereinigung in Dresden. Die Sachbearbeiterin schaute mich ungläubig an und schüttelte den Kopf: »Warum wollen Sie ausgerechnet hierher, wo Sie in Baden-Württemberg mehr verdienen?!« Ob mir das denn klar sei? Damals fühlte ich mich durch diesen Kommentar nicht gerade willkommen, eher entlarvt. Der Unterton war: Wenn der nicht wegen des Geldes kommt, warum denn dann?
Ja, warum war ich gekommen und lebe nun schon viele Jahre in Dresden? Was bewegt und berührt mich an dieser Stadt und ihren Menschen? Habe ich den deutschen Osten in all diesen Jahren besser verstehen gelernt? Wie können wir heute, als Menschen aus dem Osten und Westen Deutschlands, Wege zu einem Gespräch über unser Land und unser Leben finden?
Mein Impuls, damals, 13 Jahre nach der Wende, nach Dresden zu ziehen, reicht auf Erfahrungen aus meiner Kindheit und Jugend zurück. Als Sohn deutscher Exilanten bin ich 13 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs in Schottland geboren. Als Kriegskinder hatten sich meine Eltern in jungen Jahren dem Aufbau einer Gemeinschaft von deutschsprachigen Flüchtlingen meist jüdischer Abstammung im rauen Norden Schottlands angeschlossen. Hier war Aufbruch! Während Europa in Trümmern lag und das bleierne Schweigen an den deutschen Abendbrottischen einzog, war hier in Schottland ein neues Zeitalter angebrochen: Reformgedanken wurden erprobt, neue soziale Ideen verwirklicht. Durch die Anthroposophie Rudolf Steiners befruchtet, hatten Menschen zueinander gefunden, die dem Terror und der Deportation der Nationalsozialisten entflohen waren. Sie nahmen sich dort der ausgegrenzten Menschen an, den behinderten Kindern und Heranwachsenden, die oftmals noch in stallähnlichen Nebengebäuden oder in ärmlichen, verwahrlosten Kinderheimen untergebracht waren – ein für beide Seiten neues Lebenskonzept verwirklichend. Alle Mitglieder der Gemeinschaft lebten gleichermaßen von den Erträgnissen dieser Arbeit und der Landwirtschaft. Alles, was erwirtschaftet wurde, stand der Gemeinschaft zur Verfügung. In dieser einzigartigen schottischen Enklave an den Ausläufern der Highlands habe ich meine Kindheit verbracht, lebte weder im »kapitalistischen Westen«, geprägt durch die soziale Marktwirtschaft, noch im »sozialistischen Osten«, geprägt durch gewaltsame Abgrenzung davon.
Diese Vorgeschichte war wohl einer der Gründe, weshalb ich viele Jahre später in den Osten Deutschlands zog. Noch immer auf der Suche nach der verlorenen Zeit wollte ich damit einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Mir kam es so vor, als ob durch die Erfahrung des realen Sozialismus in der DDR ein soziales Miteinander gewachsen war, das bedeutender und intensiver ein Gemeinsames erleben ließ – was immer das auch war: Widerstand? Resignation? Mangel? Armut? –, als es im aufstrebenden Westen der 70er- und 80er-Jahre möglich war.
Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl unter dem Terror der Diktatur war etwas, das man in der alten BRD, wo jeder jedem Konkurrent war, nicht in dieser Form kannte. Die Menschen im Osten schienen empfänglicher füreinander, für Gemeinschaft‚ für soziale Prozesse, für das Gemeinwohl. Denn sie mussten fortwährend improvisieren, kommunizieren und waren dabei aufeinander angewiesen. Durch meinen Umzug wollte ich herausfinden: Was war davon geblieben? Und könnte man es neu beleben, wenn die Menschen die Erfahrungen in der DDR-Diktatur positiv verarbeiten?
Als ich 2003 meine Hausarztpraxis in Dresden eröffnete, hatte ich die naive Vorstellung, Patienten würden sich mir gegenüber vom erlebten »Terror nach Innen« öffnen und von der ständigen Beobachtung und Verfolgung durch die grauen Staatssicherheitsbeamten, vom Gefühl, überall abgehört zu werden, von willkürlichen Verhaftungen, sozialer Ächtung oder vom Täter-Sein und der Reue berichten. Aber nichts wurde berichtet. Als hätte es das alles nicht gegeben. Eher noch wurde gemurrt und gezetert, wie der Westen »uns« überfallen und zerstört hätte, was gut in der DDR war, das Bildungswesen, die Mieten, der Brotpreis, die Ärzte …
Die dumpfe Wiederholung bedroht heute unsere Werte, sofern das Gewesene nicht hinterfragt wird.
Eigentlich würde man, psychotherapeutisch gedacht, nach durchlittener DDR-Diktatur mit ihren unzähligen Verletzungen posttraumatisches Wachstum erhoffen. Aber diese posttraumatische Zeit, die Ruhe und Achtsamkeit im Rückblick sowie Anerkennung und kritische Würdigung braucht, traf in der Nachwendezeit bis heute auf eine abermals von Machtansprüchen durchsetzte Welt, die vielfach erneutes Trauma generiert: Neoliberalismus, Privatisierung, Steuersenkung und Sozialabbau, eine neue Konsumgesellschaft, der marktkapitalistische Umgang mit Grund und Boden – all das als unanfechtbares Dogma der neuen Zivilgesellschaft. Kann überhaupt unter diesen politischen, ökonomischen und sozialen Herrschaftsstrukturen Versöhnung mit den Schatten der Vergangenheit gelingen?
In den Jahren nach der Wende sind die Oberflächen museal geglättet worden – Stichwort Frauenkriche – dadurch aber auch dem Leben entfremdet. Ein Gang durch die Dresdner Altstadt gibt ein beredtes Beispiel hierfür. Es entstanden bezaubernde Orte, beste Sanierungen, Gründerzeithäuser glänzen in ihrer alten Pracht, liebevoll renoviert, neu gepflegte Gärten und Schlösser – dennoch verschweigt die Sprache noch immer die tiefen Verwundungen in Gesellschaft und Landschaft. Übertüncht von solch glänzender Welt und von Verrücktheiten und Überfluss, von Heimwerkerkitsch und Konsum – ist das die Antwort auf das »soziale Experiment« DDR?
In meiner Wut über das nostalgische Schön-Reden der DDR-Diktatur kamen mir aber auch Zweifel: Haben die Menschen im Osten Deutschlands nicht ein Recht auf Heimat, auf die Verbundenheit mit dem, was sie sozialisiert hat, und was sie verloren haben? Wie fühlt sich dieser Verlust an? Werde ich als aufgeklärter, mit europäischen Werten groß gewordener Weltbürger zunehmend zum »Besser-Wessi«? Und erst langsam bemerkte ich, dass ich etwas ganz Entscheidendes verpasst habe, nämlich sozusagen die Parzivalfrage zu stellen: »Oheim, was fehlt dir?« Mich berühren zu lassen vom Leid des anderen.
Wenn man der Elbe folgt ist der Unterschied beider Länder, hüben und drüben, noch heute gravierend: zwischen dem gestylten, gepflegten Hitzacker links der Elbe mit seinen hübsch sanierten Fachwerkhäusern und dem quer gegenüber gelegenen Dömitz rechts der Elbe mit den verfallenen Hinterhöfen, dem Scheunen-Cafe, seinen mühselig wieder errichteten Fassaden. Auch wenn dort die »Wiedervereinigungsbrücke« über die Elbe das Zusammenwachsen beider Staaten symbolisieren möchte. Hat dieses Volk, das eine und einige, noch immer nicht zusammengefunden? Und wie wird es diesen Weg über die Brücke gehen können?
Verstehen kann beginnen, wenn wir uns diese Unterschiede, die je eigene Geschichte bewusst machen. Und wenn wir uns dann aus West und Ost treffen und eine Begegnung suchen, die das Gemeinsame und nicht das Trennende in den Raum stellt, werden wir alle zu Grenzgängern. Dann wird die Einigungsbrücke nicht mehr nur ein Symbol, sondern lebendig.
Diesen Gang über die Brücke des Verstehens brauchen wir, um die Macht des Schweigens zu durchbrechen. Mitte der 70er-Jahre gab es im Westen der Republik eine für diese Zeit ganz typische Buchveröffentlichung: »Das Schweigen der Väter«. 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Väter sich darüber ausgeschwiegen haben. Abermals 30 Jahre nach der Wende holt uns die Stummheit des Vergangenen abermals ein: das Schweigen der Täter und das der Opfer. Die Sprache wird dabei vielfach zur Sprache der Verachtung, der Ausgrenzung, der Fremdenfeindlichkeit, des Schamlos-Zynischen in Anbetracht einer gemeinsamen Vergangenheit.
Daran dürfen wir uns nicht gewöhnen. Denn die dumpfe Wiederholung bedroht heute unsere Werte, sofern das Gewesene nicht hinterfragt, nicht verstanden und nicht versprachlicht wird. Aber dafür braucht es Räume und Brücken des Verstehens.