Ein Blick, der neue Wirklichkeiten schafft
Rob Hopkins sieht überall das Mögliche. Zu diesem Möglichkeitsblick möchte der Begründer der Transition-Town-Bewegung die Menschen inspirieren – und sie ermutigen, die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft in die eigenen Herzen und Hände zu nehmen.
evolve: Warum ist es Ihrer Meinung nach in unserer Zeit so wichtig, die Kraft der Imagination zu befreien?
Rob Hopkins: Vielleicht ist es sinnvoll, zunächst damit zu beginnen, was wir unter Vorstellungskraft oder Imagination verstehen. Meine Lieblingsdefinition stammt von John Dewey, der Imagination als die Fähigkeit beschreibt, die Dinge so zu sehen, als ob sie auch anders sein könnten. Mein Impuls, darüber nachzudenken, wurde durch die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel und der ökologischen Krise sowie den überwältigenden Anzeichen dafür ausgelöst, dass unser derzeitiges Wirtschafts- und Kulturmodell katastrophale Wirkungen hat.
Ich hörte immer wieder Aussagen von ökologischen Denkern, die auf unterschiedliche Weise alle zu dem Schluss kommen: »Der Klimawandel ist die Folge des Versagens unseres Vorstellungsvermögens.« Und ich fragte mich, was sie damit meinen. Bei meinen Nachforschungen stieß ich auf eine 2010 in den USA veröffentlichte Studie, in der festgestellt wurde, dass der IQ und die Vorstellungskraft bis Mitte der Neunzigerjahre gemeinsam angestiegen waren; danach nahm der IQ weiter kontinuierlich zu, während die Vorstellungskraft abzunehmen begann und seitdem zurückgeht.
Heute können wir eine überwältigende Flut von Faktoren beobachten, die unserer kollektiven Vorstellungskraft schaden. Manche bezeichnen dies auch als »Desimaginationsmaschine«. Angst, Trauma und Stress beeinträchtigen den Teil unseres Gehirns, in dem sich unsere Vorstellungskraft entfaltet. Die geringere Zeit, die wir in der Natur verbringen, wirkt sich auf unsere Vorstellungskraft aus. Und wir tragen ständig diese Geräte mit dem hohem Suchtpotenzial mit uns herum. Die Zeit, die wir unseren Smartphones widmen, hätten wir vor 20 Jahren vielleicht noch damit verbracht, einen verträumten Spaziergang zu machen, ein Gedicht zu schreiben oder uns eine Geschichte auszudenken. Der Einfluss der Smartphones auf unsere Aufmerksamkeitsspanne schwächt unsere Vorstellungskraft.
Außerdem gibt es immer mehr Politiker, die glauben, dass Veränderungen nur in kleinen Schritten erfolgen sollten. Es gibt keine »I have a dream«-Politiker mehr, wir leben nicht mehr in einer von Visionen geprägten Kultur. Es sind also viele Faktoren, die zusammen eine unglückliche Verkettung erzeugen, die unserer Vorstellungskraft zutiefst schadet.
Sehnsucht nach dem Möglichen
e: Heute vertrauen wir hauptsächlich der wissenschaftlichen Analyse. Und gesetzten Zielen nähern wir uns nur schrittweise. In der Vorstellungskraft werden verschiedene Fähigkeiten unseres Menschseins freigesetzt, derer wir uns bei der Analyse von Statistiken nicht bewusst sind. Warum ist es für den globalen Klimaschutz so wichtig, diese Kompetenzen zu nutzen?
RH: Im letzten Bericht des Weltklimarates IPCC hieß es in der Einleitung in etwa: »Uns bleibt ein kleines, sich schnell schließendes Zeitfenster, um eine lebenswerte Zukunft zu sichern.« Viele Menschen lesen das so: »Nun, wir sind zu spät dran, es ist vorbei.« Ich aber lese das und denke: ›Ok, es gibt noch ein Zeitfenster.‹ Von Klimawissenschaftlern wissen wir, dass wir dieses Zeitfenster nur sinnvoll nutzen, wenn wir die Bereiche Bildung, Energie, Ernährung und Verkehr völlig neu gestalten. Und wir haben bei COVID gesehen, dass wir Dinge schnell neu gestalten können, wenn wir erkennen, dass Handlungsbedarf besteht.
Deshalb unterstütze ich in meiner Arbeit Menschen dabei, sich vorzustellen, wie eine ökologische Zukunft aussehen könnte, wenn wir dieser Vorstellung die Angst nehmen und eine Sehnsucht danach kultivieren. Die Imagination ermöglicht es uns, Sehnsucht zu entwickeln. Und Sehnsucht ist eine der mächtigsten und wertvollsten Gaben, die wir im Moment haben. Als Aktivisten denken wir häufig, dass wir den Menschen nur einen möglichst erschreckenden Bericht vorlegen müssen – und schon werden sie die Welt verändern. Aber das ist ein Irrglaube. Wir werden nur dann eine andere Zukunft schaffen, wenn wir uns zuerst nach ihr sehnen.
Bevor die Menschheit auf den Mond flog, verkündete der amerikanische Präsident John F. Kennedy, dass wir innerhalb von sechs Jahren eine Mission zum Mond schicken wollen. Aber Kennedy wachte nicht eines Morgens auf und hatte diese verrückte Idee. Wir sind schon viele Jahre vorher zum Mond geflogen. Wir sind in Liedern dorthin gereist, Frank Sinatra hat uns zum Mond gesungen. Wir waren in Geschichten schon so oft auf dem Mond gewesen, die Sehnsucht war da. Und als wir beschlossen, es zu tun, ging es unglaublich schnell.
¬ DIE IMAGINATION ERMÖGLICHT ES UNS, SEHNSUCHT ZU ENTWICKELN. ¬
Auf dieselbe Weise versuche ich, verschiedene Wege zu finden, die Menschen dabei unterstützen, Schritte in die Zukunft zu wagen. Ich erzähle Geschichten, spreche über Orte, die bereits existieren. Kürzlich besuchte ich den Freiburger Stadtteil Vauban, dieses wunderbare, autofreie Wohnviertel, um die dortigen Klänge aufzunehmen. Wie hört sich ein autofreies Viertel an? Wie wäre es, in einer Stadt ohne Autos zu leben? Ich stelle das jetzt auf meine Website und präsentiere es so, als ob ich eine Zeitreise von 30 Jahren in die Zukunft gemacht und aufgezeichnet hätte, wie die Städte dann klingen werden.
Wir müssen in der Lage sein, die Vorstellungskraft der Menschen mit Möglichkeiten, Geschichten, Sehnsucht, Verlangen und dem Glauben an eine Zukunft zu füllen, die so unwiderstehlich und anziehend ist, dass wir keine andere Wahl mehr haben. Denn wenn wir spüren, dass wir von etwas Unersetzlichem weggerissen werden, werden wir das nicht zulassen. Deshalb müssen wir diese Art von Sehnsucht erzeugen. Und das ist die Aufgabe der Imagination, der Musik, der Poesie, des Geschichtenerzählens und der Kunst.
e: Sie sind einer der Gründer von Transition Town, einer Bewegung, in der sich die Menschen eine andere Welt vorstellen, die aber zugleich in der Konkretheit unserer Lebenswelten verankert ist. Es handelt sich nicht um eine Art Systemdenken darüber, wie wir eine andere Gesellschaft schaffen. Es konzentriert sich auf die Stadt, die Nachbarschaft. Die Menschen fangen an, sich aus ihren eigenen Lebenserfahrungen heraus Alternativen vorzustellen und danach zu handeln, um beispielsweise Kindergärten und Gemeinschaftsgärten zu schaffen. Diese Konkretheit scheint ein fruchtbarer Boden für die Wirkkraft der Imagination zu sein.
RH: Bei der Transition-Town-Bewegung geht es um Gemeinschaften, die sich die Welt neu vorstellen und sie neu gestalten. Ich glaube, dass dabei das Gleichgewicht zwischen Vorstellungskraft und Handeln wesentlich ist. Die Transition-Bewegung bietet diese visionären Räume, die ich als »Was-wäre-wenn-Räume« bezeichne, auf Gemeinschaftsebene. Einige Gemeinden haben die Bedeutung dieser Arbeit erkannt. So hat die Stadtverwaltung von Bologna zum Beispiel ein wunderbares »Amt für bürgerliche Vorstellungskraft« eingerichtet. Sie eröffnete sechs Labors, die auf die ganze Stadt verteilt sind, in denen sie große Visionsworkshops veranstaltet und mit den Bürgern gemeinsam daran arbeitet, diese Visionen in die Realität umzusetzen. Wir brauchen viel mehr solcher Initiativen.
Der entscheidende Ansatz der Transition-Bewegung lautet: »Wir kommen als Menschen zusammen, die an einem Ort leben und denen dieser Ort am Herzen liegt. Wir informieren uns über die Herausforderungen, die wir erleben, und dann träumen wir gemeinsam.« Vorstellungskraft ist etwas, das wir selbst tun können. Wir alle verfügen über eine eigene, persönliche Vorstellungskraft, aber die radikale Vorstellungskraft, die weltverändernde Vorstellungskraft, von der ich hier spreche, verwirklichen wir gemeinsam mit anderen Menschen. Und das geht am besten, wenn wir die richtigen Räume dafür schaffen und Menschen in geeigneter Weise dabei unterstützen.
Netzwerke von Beziehungen
e: Es ist interessant, dass Sie auf die Bedeutung der Beziehungen hinweisen. Sie haben viele Jahre als Permakultur-Trainer gewirkt, und es scheint eine Verbindung zwischen der Transition-Town-Idee und dem Permakultur-Ansatz zu geben. In beiden wird die Vorstellungskraft nicht isoliert verstanden, sondern als ein zusammenhängendes System, das wir fördern können, damit all die verschiedenen Aspekte in eine wechselseitige unterstützende Konstellation kommen. Darin liegt etwas, das über unsere individualisierte Art und Weise hinausgeht, bei der sich jemand hinsetzt, sich etwas vorstellt und dann ein großartiges Buch darüber schreibt. In Ihrem Ansatz ereignet sich dies als ein lebendiges System, bei dem die imaginative Kraft freigesetzt wird.
RH: Ich war 22 Jahre alt, als ich die Permakultur entdeckte, und ich habe sie viele Jahre lang studiert und unterrichtet. Das hat mein Denken völlig verändert, weil die Permakultur aus der Weisheit der Natur schöpft. Sie besagt, dass wir uns bei allem, was wir entwerfen, daran orientieren müssen, wie die Natur gestaltet. Die Natur ist wirklich gut darin, lebendige Prozess zu gestalten, und das schon seit sehr, sehr langer Zeit. Auf diese Weise lernt man Systemdenken und Komplexität auf eine sehr praktische Art und Weise. Gleichzeitig lernt man, überall Möglichkeiten zu sehen. Wenn man die Straße entlanggeht, sieht man jeden Rasen als potenziellen Gemüsegarten. Man sieht jede Mauer als potenziellen Platz für das Wachstum von Dingen. Man sieht jedes Dach als potenzielles Solarkraftwerk und zum Sammeln von Wasser. Man sieht überall Möglichkeiten. Als wir die Transition-Bewegung ins Leben riefen, wollten wir diese Prinzipien der Permakultur nutzen, um eine Gesellschaft ohne fossile Brennstoffe zu schaffen.
Mut zur Zukunft
e: In Ihrem Buch las ich den Satz: »Heute betrachte ich es als einen Akt immensen Mutes, des Widerstands und der Rebellion, sich die Zukunft auf positive Weise vorzustellen.« Warum empfinden Sie das so?
RH: Ich begegne so vielen Menschen, die auf dem Gebiet des Klimawandels arbeiten oder einfach die Situation verstehen. Viele sind verzweifelt, niedergeschlagen, erschöpft. Sie haben das Gefühl, dass der Kollaps der Ökosysteme der Erde unausweichlich ist. In vielerlei Hinsicht unterstützt die Wissenschaft diese Analyse. Und ich sage oft zu den Menschen: »Wenn ihr nicht regelmäßig über den Klimawandel erschreckt, habt ihr dem Geschehen bisher nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt.«
Manchmal werde ich auch als Optimist abgestempelt. Aber wenn jemand ständig optimistisch ist, ist er nicht aufmerksam genug. Wenn wir jedoch andererseits unablässig pessimistisch sind, ist das lähmend und hält uns davon ab, etwas zu tun.
¬ WENN WIR NICHT BILDER VON EINER ANDEREN, BESSEREN ZUKUNFT »MALEN«, WIRD DER WANDEL NIE STATTFINDEN. ¬
Alle großartigen Bewegungen, die in der Vergangenheit Veränderungen bewirkt haben, waren dazu in der Lage, weil sie den Menschen geholfen haben, einen neuen Leitstern zu schaffen. Wie Martin Luther King, als er sagte: »Ich habe einen Traum.« Wenn wir nicht Bilder von einer anderen, besseren Zukunft »malen«, wird der Wandel nie stattfinden. Viele Menschen denken, dass die Aktionen von Extinction Rebellion die wirklich radikalen Maßnahmen sind. Ich liebe Extinction Rebellion, aber wenn wir dieses mutige, schöne Nein nicht gleichzeitig mit einem mutigen, schönen Ja begleiten, werden wir scheitern.
e: Und dabei ist die Entwicklung der Imagination so wichtig, weil sonst die Zukunft keinen Landeplatz in der Realität hat, um sich tatsächlich zu ereignen.
RH: Ja, absolut. Wenn die Geschichten, die wir uns über die Zukunft erzählen, nur vom Aussterben oder vom Kollaps handeln, lähmen sie uns. Ich möchte, dass die Menschen jeden Morgen mit dem Gefühl der Begeisterung über die Möglichkeiten aufwachen, die wir jetzt umsetzen könnten, und wie die Welt dann aussehen würde.
Es gibt einen französischen Film namens »Tomorrow«, der 2015 herauskam. Es ist ein erstaunlicher Film, der angewandte Alternativen für eine nachhaltige Transformation zeigt. Er kam in Frankreich heraus, kurz nach den Bataclan-Anschlägen in Paris im November 2015, bei denen Terroristen viele Menschen in einem Konzertsaal töteten. Ich war bei vielen der Filmvorführungen, und mindestens die Hälfte der Zuschauer war unter 25. Hinterher kamen sie auf mich zu und sagten: »Wir lieben diesen Film!« Und ich fragte: »Warum?« Sie antworteten: »Weil wir jetzt eine Geschichte haben. Vorher hatten wir keine Geschichte. Nach den Anschlägen im Bataclan haben wir uns gefragt: ›Wofür steht Frankreich? Was sollen wir tun?‹ Aber jetzt haben wir eine Geschichte.«
Ich war letzte Woche in Frankreich und die Leute dort sprechen von der génération demain, der zukünftigen Generation. Die Jugendlichen, die den Film im Alter zwischen 16 und 20 Jahren gesehen haben, haben die Universität absolviert und gehen jetzt in die Welt hinaus. Und die Geschichte, die sie in dem Film gesehen haben, ist ihr Leitstern. Das ist die Zukunft, die sie gestalten werden. Ich treffe viele dieser jungen Leute, und sie sind erstaunlich, sie sind so konzentriert und entschlossen.
Raum für Neues
e: In Ihrem Buch erzählen Sie, wie Einstein seine großartigen Ideen auf seinen Fahrradtouren durch den Wald hatte. Wofür steht diese allmorgendliche Fahrradtour Einsteins durch den Wald, die entscheidend dafür zu sein scheint, die Vorstellungskraft freizusetzen?
RH: Raum. Vorstellungskraft braucht Raum. Jeder, der dies liest, wird wissen, dass er in seinem Leben dann besonders einfallsreich war, wenn er Raum hatte. Wir können unsere Vorstellungsgabe nicht wirklich entfalten, wenn wir erschöpft und ausgebrannt sind oder unter Termindruck arbeiten. Wir brauchen Freiraum. Wissenschaftler beschreiben bestimmte Gehirnregionen, die aktiviert werden, wenn wir etwas tun, das uns nur teilweise beschäftigt, aber nicht unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, als Default Mode Network oder Ruhezustandsnetzwerk. Wenn Sie also zum Beispiel im Garten arbeiten oder stricken, tun Sie etwas mit Ihren Händen, was Ihrem Gehirn erlaubt, in einen anderen Zustand umzuschalten und die Vorstellungskraft in Bewegung zu setzen.
¬ VORSTELLUNGSKRAFT BRAUCHT RAUM. ¬
Und Organisationen und Gruppen möchte ich sagen, dass es auch auf die Organisation selbst ankommt. Wenn sich eine Organisation erfolgreich für die Zeiten, in denen wir leben, neu aufstellen will, wird das nur möglich, wenn innerhalb der Organisation Raum geschaffen wird. Nehmen Sie sich als Organisation einen Tag in der Woche frei, um zusammenzukommen und diese Re-Imagination einzuladen, denn sonst kann sie sich nicht ereignen. Fahren Sie gemeinsam für eine Woche in die Berge. Setzen Sie sich in eine Hütte im Wald – begleitet von jemandem, der das moderieren kann – und entwickeln Sie gemeinsam neue Vorstellungen darüber, was Sie tun wollen.
Deshalb sage ich auch, dass ein universelles Grundeinkommen und eine Vier-Tage-Arbeitswoche als Teil einer nationalen »Imaginationsstrategie« in Betracht gezogen werden sollte. Wenn wir der Vorstellungskraft wirklich Priorität einräumen wollen, müssen wir den Menschen Raum geben. Die Fähigkeit, ein Leben zu führen, das von Vorstellungskraft und Imagination erfüllt ist, sollte als eines der grundsätzlichen Rechte anerkannt werden.