Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
November 7, 2019
Gui Perdrix lebt als digitaler Nomade und Coliving-Experte zwischen Frankreich, Spanien, USA, Mexiko, Bali und vielen anderen Orten. Wir wollten von ihm wissen: Was bedeutet Heimat, wenn man immer unterwegs ist?
evolve: Was bedeutet es für dich, als digitaler Nomade zu leben?
Gui Perdrix: Dieses Leben kommt für mich aus der Idee des Lifestyle Designs. Wir kommen irgendwo auf die Welt, in eine Kultur, die wir uns nicht ausgesucht haben, und mit Leuten – Familie, Nachbarschaft usw. –, die wir uns nicht ausgesucht haben, die uns aber auf einen bestimmten Lebensweg setzen. Viele Menschen fragen sich dann irgendwann mit 16, 17, 18: »Worum geht es mir wirklich?« Ich persönlich habe mir diese Frage oft gestellt. Und so wurde mein Leben zu einem Prozess der Selbstentdeckung.
Nach meinem Studium bin ich in die Startup-Szene hineingekommen und lebte in Paris, wo ich einen Coworking-Space gegründet habe. Vor drei Jahren hatte ich dann einen Breakdown, weil ich mich selbst nicht gut kannte. Mein Leben drehte sich nur um die Arbeit. Da wusste ich, dass ich mehr auf meine eigenen Bedürfnisse achten musste, vor allem wollte ich mehr mit Leuten zusammen sein, die ich liebe. Ich habe alles verkauft, meine Wohnung gekündigt und meine Sachen in einen Rucksack hineingetan und bin losgezogen.
Als digitaler Nomade lebe ich, weil es heute zu meinen Zielen passt. Mich fasziniert es, überall auf der Welt Coliving-Experimente zu initiieren oder zu besuchen, weil für mich die menschliche Verbundenheit im Zentrum steht. Und ich arbeite gerade an einem Buch über Coliving an verschiedenen Orten der Welt, deshalb reise ich herum und interviewe Leute.
e: Wie ist für dich das Verständnis oder das Gefühl von Heimat in diesem Lebensstil?
GP: Für mich ist Heimat an den Ort gebunden, wo du aufgewachsen bist. Es hat mit Kindheit zu tun, mit der Grundkultur, die dir gegeben wurde. Diese Grundkultur habe ich überwunden, mit der identifiziere ich mich nicht mehr. Theoretisch ist Deutschland meine Heimat, aber ich habe emotional keine Verbindung zum Wort Heimat. Wie definiert man Heimat? Am Ende ist die Welt meine Heimat. Für mich ist es eher das Gefühl von Home, von Zuhause. Home ist ein Gefühl, »you can feel like home«. Home ist ein Ort, an dem du dich zuhause fühlst. Man kann dieses Gefühl von Home in verschiedenen Situationen haben. Home ist für mich ein Ort, an dem ich so sein kann, wie ich bin, ohne eine Maske aufzuziehen, und wo ich mit meinen eigenen Werten und meiner Persönlichkeit sein kann und akzeptiert werde. Es gibt verschiedene Ebenen von Home, das Gefühl von Zuhause, das Menschen dir geben, das eine Stadt dir gibt oder das eine Kultur dir gibt.
e: Wie siehst du dieses Interesse an den Coliving-Spaces im Kontext von Heimat und Zugehörigkeit?
GP: Ich denke, dass Coliving das Bedürfnis nach Zugehörigkeit erfüllen kann, wenn es richtig umgesetzt wird. Du bist Teil einer Gruppe, einer Community und eines Support System. Wenn Coliving mit der richtigen Struktur und der richtigen Intention gestaltet wird, kann es dazu führen, dass du dein Leben wirklich auf verschiedenen Ebenen verbessern kannst. Anstatt mit 1000 Euro allein unter einem Dach zu leben, kannst du in einer Villa mit Swimmingpool leben, weil es 10 Zimmer gibt, die man sich teilt. Auf der Ebene der Zugehörigkeit kannst du Leute finden, die dich inspirieren und dein Netzwerk kreieren. Auf der Ebene der Selbstverwirklichung kann Coliving dazu beitragen, dass du viel über dich lernst und dass dir andere Leute dabei helfen, deine eigenen Ziele zu erreichen und zu wachsen. Deshalb sehe ich Coliving als eine Möglichkeit, um ein erfüllteres Leben zu führen.
e: Was macht für dich eine Form von Coliving aus, wo diese Potenziale erfüllt oder erschlossen werden? Was braucht es dafür von Leuten oder von der Qualität von Beziehungen miteinander?
GP: Hier sind das Design und die Werte wichtig. Für mich lebt ein Coliving-Space aus klaren Werten. Erstens, die Menschen sind kreativ und wollen einen Wert in die Welt geben. Zweitens, sie sind Gebende, wollen zur Gemeinschaft beitragen und gehen über sich hinaus. Hinzu kommt das Design, also die Architektur und die Prozesse. Dazu gehören so praktische Dinge wie die Anzahl der Kühlschränke, bis hin zu den authentischen Formen des Zusammenseins und Austauschs. Im Grunde kommen wir wieder zurück zur Intention. Denn Coliving ist nicht das Ziel, es ist ein Mittel, um eine tiefere Absicht umzusetzen. In der Coliving-Szene gibt es einerseits Leute, denen die Werte wichtig sind, und andere sehen es nur als ein Tool, um bessere Profite zu machen.
e: Man könnte sagen, dass dieses ortsunabhängige Leben auch ein Stück weit eine Flucht vor Verantwortung für einen Ort und eine Gruppe von Menschen ist. Mich würde interessieren, wie du das siehst und was für dich das Bleibende in den Beziehungen ist.
GP: Ja, man könnte sagen, dieser Lebensstil ist selbstfokussiert. Es fängt an mit der Intention, dir dein eigenes Leben zu kreieren. Aber wenn es nur um Flucht geht, dann wird man sich in dieser Lebensweise nicht finden. Man muss schon einen gewissen Wert darin sehen. Dieser Lebensstil ist vielleicht selbstfokussiert in dem Sinne, dass du deine eigenen Wünsche respektierst. Das heißt aber nicht, dass du ein Einzelgänger bist. Die meisten Sachen, die ich mache, sind größer als ich. Beim Coliving geht es nicht um mich. Es geht um menschliche Verbundenheit.
Meine Verantwortung gilt vor allem auch meinen Freundeskreisen. Vor zwei Jahren habe ich z.B. in Griechenland ein »Love Retreat« für meine vier besten Freunde organisiert. Wir haben vier Tage eine intensive Zeit miteinander verbracht. Mir ist es lieber, dass ich sie alle vier Monate sehe, aber dafür neue Erfahrung mit ihnen kreiere. Zum Glück gibt es auch Messenger und WhatsApp, wodurch wir die Verbindung aufrechterhalten können. Ich bin für sie da, wenn sie ein Problem haben, sie können mich anrufen und wenn es nötig ist, komme ich zu ihnen.
Dein Zuhause bist du selber.
Es gibt leider viele Digital Nomads, die sind nur selbstfokussiert, die denken nicht an Sachen wie den Klimawandel. Als Digital Nomad reise ich jede Woche herum. Einige Leute fragen mich, wie es mit meiner CO2-Emission aussieht und da haben sie Recht. Deshalb versuche ich auch z.B. einen Nachtbus zu nehmen anstatt eines Flugs. Daran muss man denken, denn dieser Lebensstil ist nicht sehr umweltfreundlich. Andererseits werde ich mit vielen Dingen mehr konfrontiert. Ich habe jetzt z.B. meinen eigenen Strohhalm aus Holz, den ich überall mitnehme.
e: Du hattest am Anfang erzählt, dass du nach dem Aufbau dieses Coworking-Space in Paris ein Burnout hattest und dir Zeit genommen hast, dich selbst mehr zu finden. War diese Selbstentdeckung auch ein inneres, tieferes Nach-Hause-Kommen oder Heimat-Finden?
GP: Danke, dass du diese Frage stellst, weil du vollkommen Recht hast. Was heißt, dass man sich zuhause fühlt? Darin ist dieses Wohlbefinden, diese Leichtigkeit, diese Wärme. Letztendlich, wenn du mit dir selber sehr gut klarkommst, kannst du dich überall zuhause fühlen. Dein Zuhause bist du selber. Ich war einmal in einer Yoga-Session, da sagte am Ende die Leiterin: »Welcome home«. Dieses Gefühl von Home innendrin zu finden, dass du dein Zuhause bist, spielt für mich eine große Rolle. Und ich hatte einen Mentor, Pico Iyer, der sich immer fragte: »How to feel home everywhere in the world.« Er sagt, dieses Gefühl von Zuhause musst du selber finden. Wenn du es bei dir findest, kannst du überall auf der Welt zuhause sein.