Verborgene Seelenbilder

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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

October 19, 2017

Mit:
C. G. Jung
Dag Hammarskjöld
Dorothee Sölle
Joseph Beuys
Paul Celan
Rüdiger Sünner
Rudolf Steiner
Kategorien von Anfragen:
Tags
AUSGABE:
Issue 16 / 2017:
|
October 2017
Lichtblicke für eine verwundete Welt
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Über das Buch »Geheimes Europa« von Rüdiger Sünner

Der Filmemacher und Autor Rüdiger Sünner, der erst im Februar dieses Jahres seinen neusten Film über den Dichter Paul Celan vorgestellt hat, bereichert uns erneut mit einem Werk. Dieses ist insofern ein ganz besonderes, da es in Buchform eine intensive und persönliche Rückschau auf Sünners 25-jährige Filmarbeit liefert. Wer die Protagonisten seiner Filme kennt (etwa Rudolf Steiner, C. G. Jung, Dag Hammarskjöld, Joseph Beuys, Dorothee Sölle, Goethe und Hölderlin), wird ahnen können, worauf der zunächst etwas dunkel scheinende Titel ­»Geheimes Europa« anspielen will. Es geht um die spirituelle Seite der besagten Künstler und Denker, um ihr Interesse an Mystik und Mythologie, an Alchemie und Kabbala – und damit um einen verdrängten Bereich, der im öffentlichen Diskurs nur wenig Anklang findet. »Geheim« meint also nichts Raunendes, sondern ein Unbekanntes, das noch geheimnisvoll ist, voll wunderbarer, vielstimmiger Entdeckungsmöglichkeiten.

»Das Geheime Europa ist für mich vor allem ein Schatzhaus subtiler und verborgener Seelenbilder, die aber für eine humanere Gestaltung unseres Lebens und Zusammenlebens viele Inspirationen bereithalten.« Besonders spannend zu erkunden auf den weitverzweigten Reisen in dieses »Schatzhaus« ist ihre Doppelbödigkeit. Zum einen erfährt der Leser in einer dichten Fülle Biographisches und Werkgeschichtliches über die genannten Protagonisten, da­runter manches, was selbst für Kenner noch Überraschendes bereithält. Zum anderen können wir als Leser auf diese Weise teilhaben an den persönlichen Wegen und Entwicklungen eines Filmemachers, der um eine neue poetisch-essayistische Erzählform ringt, die jedoch in der offiziellen Film- und Fernsehindustrie meist auf Skepsis und Ablehnung stößt. Es ist eine oft stille und langsame Erzählform, die als eine Art Gegengewicht zum hektischen, auf Leistung getrimmten Alltagsbetrieb »Atemräume« schaffen will, in denen »sich das Geheimnisvolle und Nichtsagbare entfalten kann«. 

Das Geheime Europa ist für mich ein Schatzhaus subtiler und verborgener Seelenbilder.

Sünner trägt nicht einfach Informationen zusammen, sondern versucht sich – mitunter durchaus provokativ – an neuen Bildzugängen und Deutungen. So plädiert er etwa dafür, die Anthroposophie nicht als »letztgültige Offenbarung eines ›Eingeweihten‹ zu verstehen, sondern als eine mythologisch-künstlerische Weltsicht«. Was für Außenstehende wenig brisant klingen mag, ist für einige Anthroposophen sicher eine Zumutung. Ebenso provoziert der Autor, wenn er den heute meist im Mittelpunkt stehenden politischen Beuys links liegen lässt und sein Augenmerk stattdessen lieber auf den Schamanen Beuys richtet. Und auch Goethe, der deutsche Vorzeige-Literat, erscheint nicht einfach nur als großer Weltbürger und Aufklärer, sondern ebenso als heidnischer Satyr, der sich auch an ekstatischen Bildern labt, die ihm Inspirationen für sein Werk schenken. 

Dabei will Sünner keineswegs die bisherige Rezeptionsgeschichte plump auf den Kopf stellen. Vielmehr will er ergänzen, erweitern, bereichern und uns mit dem verworfenen Teil, der weitestgehend ausgespart und gering geschätzt wird, in Berührung bringen. Eine mutige und ebenso dringend notwendige Herausforderung, gerade in Deutschland, »wo alles Mythologische infolge des Missbrauchs durch die Nazis tabuisiert« wurde und dadurch auch jedes spirituelle Interesse schnell verdächtig klingt. 

Doch analog zu Beuys, der seine Aufgabe darin sah, »den Menschen die Entfremdung und das Misstrauen gegenüber dem Übersinnlichen nach und nach wegzuräumen«, könnte man auch ­Sünners Aufgabe ähnlich umschreiben. Wobei es dem Autor in diesen Zusammenhängen besonders auf eine »poetisch offene Struktur« ankommt, auf freilassende Mehrdeutigkeiten, die nie buchstäblich gemeint sind und auch nicht vorgeben, von absoluten Gewiss­heiten getragen zu sein. Das »Übersinnliche« »eher als ein Zittern zwischen Metapher-Räumen und Bilderfolgen, als eine Ahnung, die weit über das bloß Abgebildete hinausgeht«. 

In diesem Sinne kann Rüdiger Sünners Buch auch als anregender Impuls begriffen werden, sich aus festgefahrenen Dogmen und überlebten Traditionen zu befreien, um neue Räume der Wahrnehmung und Verständigung zu öffnen, gerade auch als Vision für ein vereintes Europa, das nur dann zusammenwachsen kann, wenn sich (in Anlehnung an eine Wortschöpfung Celans) das spirituelle Erbe wieder vom Brachland in »Herzland« verwandelt.

Author:
Martin Spura
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