Verletzte Heimat

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

November 7, 2019

Featuring:
Thomas Hübl
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Ausgabe 24 / 2019:
|
November 2019
Offene Heimat
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Heilung eines Traumas

Für den spirituellen Lehrer Thomas Hübl wurzelt unser Empfinden von Heimat in unserem grundlegenden Gefühl der Zugehörigkeit zum Leben. Wenn dieses Empfinden verletzt ist, entsteht Trauma. Wir sprachen mit Thomas Hübl über diese Wunden in unseren Körpern, Gedanken und Gesellschaftsmodellen und wie Schattenarbeit und Mystik zu ihrer Heilung beitragen können.

evolve: Heimat hat Konjunktur. Globalisierung, die Flüchtlingskrise und auch neue neoautoritäre Bewegungen geben dem Thema neuen Auftrieb. Ich finde es spannend, dass du dich als spiritueller Lehrer diesem Thema widmest. Was bringt dich dazu?

Thomas Hübl: Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns heute dem Thema Heimat widmen. Heimat ist ein zutiefst angelegtes Lebensgefühl in uns. Es sind unsere primären Bindungsbeziehungen, die den Ausschlag dafür geben, wie Heimat in uns anlegt wird, in unserem Nervensystem, im Körper, in den Gefühlen und im Denken: Ist Heimat in mir als ein warmer, nährender, bezogener Ort verankert? Oder ist es in mir etwas, das kühl, unverbunden, vielleicht auch verletzt ist? Je nachdem gehe ich mit einem ganz anderen Grundgefühl durchs Leben. Mein Gefühl von Heimat zeigt sich in der Art und Weise, wie ich, wenn überhaupt, eine Familie gründe.

Der innerste Radius von Beziehung ist meine Selbstbeziehung, die Beziehung zu mir selbst. Der nächste Radius ist die Beziehung zu meiner Familie – wie ich groß werde und wie ich in meinem Leben Familie, Partnerschaft und Elternschaft lebe. Man kann Schwierigkeiten in diesem Bereich sehr leicht durch eine spirituelle Lebensführung überdecken. Aber dann wird Spiritualität zu einem Fluchtmechanismus und nicht zu einem tiefen, verankernden Mittel meiner Präsenz.

Die Frage nach der Heimat ist gesellschaftlich relevant, aber ihre Wurzel liegt in unserem individuellen Lebensgefühl, das jeder von uns mit sich herumträgt. Egal, ob ich ein globaler Weltbürger bin oder ob ich mein Leben lokal eingebettet lebe, Heimat ist ein grundlegendes Gefühl dafür, wie ich meine Gestaltungskraft lebe und entfalte.

Ein Gefäß für Energie

e: Heimat hat immer etwas Überschaubares. Heimat bedeutet Bezogenheit. Wir leben aber auch in einer Zeit, die immer mehr von einer Grenzenlosigkeit bestimmt wird, in der sich unser Gefühl für Heimat auflösen kann. Globalisierung und Digitalisierung sind Stichworte dieser Komplexität. Überall lösen sich überschaubare Bezugsrahmen auf. Insofern macht es durchaus Sinn, dass eine Sehnsucht entsteht, irgendwo wieder daheim sein zu können. Die Frage ist: Wie können wir in einer Zeit, die weiterhin permanent Grenzen aufbricht, Heimat neu finden? Vor allem, wenn wir es nicht nur im Sinne einer spirituellen Heimat meinen, sondern auch im Sinne einer gemeinsamen, gemeinschaftlichen, kulturellen Wirklichkeit.

TH: Ich möchte den Begriff der Heimat in Bezug zur Mystik mit dieser Wendung bezeichnen: »Energie braucht ein Gefäß.« Wenn man zu viel Energie öffnet, ohne dass man ein Gefäß hat, dann fließt die Energie überall hin, aber nicht in geordneten Kanälen. Auch wenn Menschen spirituell praktizieren und nicht darauf achten, ob sie ein gesundes oder vielleicht ein traumatisiertes Gefäß haben, entstehen enorme Spannungen im Leben. Wir brauchen sozusagen ein gutes Abwassersystem, in dem das Wasser permanent abfließen kann. Das beginnt in unserem Körper, denn Verkörperung ist die intimste Form von Heimat. Kann ich in meinem Körper zuhause sein?

Traumatisierung schafft Entkörperung. Heilung, ein gesundes Erleben der Familie oder gesunde Beziehungen sind Formen der Verkörperung, eine warme Basis, ein Gefühl, dass ich in mir, in meinen Beziehungen, in der Kultur, in der Gesellschaft, in der Welt, im Universum zuhause bin.

Hier sehe ich auch einige Symptome dieser Grenzenlosigkeit. Wenn zum Beispiel Digitalisierung und Trauma zusammenwirken, dann entsteht der Wunsch nach einem überexponentiellen Wachstum und nach einer Grenzenlosigkeit, die nicht mehr auf gesunde Weise mit dem Menschsein verbunden sind. Darin liegen eine Gefahr und eine Schattenseite der Technologie, denn die Technologie ist heute auch Teil der Heimat. Wenn ich jetzt mit dir spreche, nutzen wir Technologie. Wenn ich jemandem eine WhatsApp- oder eine Textnachricht schicke, dann benutze ich Technologie. Überexponentielles Wachstum ist wirklich gefährlich. Es entzieht sich der Verkörperung. Wir achten nicht darauf, ob unsere Gefäße, die diese neue Ebene unserer Entwicklung aufnehmen, auch mitwachsen. Es entsteht eine Spannung zwischen einem Wachstum, das oft sehr mental und intellektuell ist, und unserem emotionalen und körperlichen Erleben. Das bringt unsere »Heimat« in Gefahr.

Landschaften der Menschheit

e: Wir können aber in diese mentalen oder geistigen Dimensionen nur dann in einer heilsamen Form hineinwachsen, wenn uns unsere Verwurzelung und unsere körperliche Anwesenheit und Gegenwärtigkeit nicht verlorengeht. Dann entsteht neue Heimat.

TH: Absolut. Wenn Energie im Körper zuhause ist, entsteht Schönheit. Oft ist dies aber nicht der Fall. Warum? Ich glaube, die Wurzel dessen finden wir oft in einer Traumatisierung über Generationen hinweg. Wir müssen anerkennen, dass Heimat verletzt ist. Heimat ist an vielen Orten der Welt verletzt. Die Heimat in Deutschland ist durch die enorme Katastrophe des Nationalsozialismus verletzt. Die Heimat in Amerika, in China, in Lateinamerika ist verletzt. Wir haben in der Geschichte als Menschen viel dazu beigetragen, dass unsere Heimat eben nicht mehr nur Heim ist. Wir haben unsere Heimaten gegenseitig verbrannt, zerbombt, massakriert.

Wir sind nicht auf ein weißes Blatt Papier geboren worden. Wir wurden in eine Trauma-Landschaft und Innovationslandschaft der Menschheit hineingeboren. Die Errungenschaften und die Wunden der Menschheit sitzen in unseren Genen, in unserer Psyche, in unseren Körpern, in unseren Gedanken, in unseren Gesellschaftsmodellen.

Trauma ist eine Vereisung von Geschichte in uns oder eine Desorganisation unseres Nervensystems. Und wir sehen in unserer Kultur viele desorganisierte Bereiche. Trauma ist ja nichts Vereinzeltes, sondern eine geteilte Wirklichkeit. Wir alle investieren mehr oder weniger in Traumatisierung oder in das kollektive Unbewusste. Und vieles von dem, was wir hier besprechen, geht darauf zurück, dass es einen Heilungsweg gibt. Der spirituelle Weg ist für viele Menschen ein Heilungsweg, ein Weg der tieferen Integration.

Es gibt ein ganz zentrales jüdisches Gebet, das jeden Freitag gesprochen wird. Darin gibt es eine Zeile, die sagt »Gott ist, war und wird sein.« Wenn Gott ist, war und sein wird, warum stellen wir überhaupt eine Frage nach Gott? Warum gibt es überhaupt Trennung? Trennung voneinander, Trennung zwischen uns, zwischen den Fremden, den Heimatlosen, den Flüchtlingen, den anderen politischen Richtungen und uns, oder der Spiritualität und uns oder der Erde und uns. Was ist diese Trennung? Was ist Fremdheit? Und was ist das Heimatlose? Ich glaube, das Fremde und das Heimatlose verbindet ein Begriff: Trauma. Es ist die unerledigte Geschichte, die wir in uns tragen.

Abgrenzung und Großzügigkeit

e: Das Thema Heimat hat auch eine politische Relevanz und wird auch von den Neu-Rechten sehr stark belegt. In der letzten Zeit habe ich mir öfter den rechten YouTuber Martin Sellner aus Wien angesehen, der im ganzen deutschsprachigen Raum zu einer Führungsfigur der völkischen, identitären Bewegung geworden ist; ein smarter junger Mann. Er spricht natürlich über Heimat und Verteidigung der Heimat. Flüchtlinge sind für ihn Heuschrecken, die über das Meer herüberkommen. So wie bei ihm wird Heimat immer als etwas verstanden, was im Kontrast zur offenen Gesellschaft und einer globalen Verantwortung steht.

TH: Die übertriebene Liberalisierung und das übertriebene Wachstum, von dem du gesprochen hast, sehe ich im Zusammenhang von zwei menschlichen Kräften des Erlebens. »Becoming« und »Belonging«. »Becoming« heißt, ich brauche einen »Drive«, um mich zu entwickeln. Jeder Mensch hat einen »Drive«, sich zu entwickeln und kreativ zu sein. Jeder Mensch hat auch einen inneren »Drive«, sich zu verbinden, zu beziehen und irgendwo dazuzugehören. Das meine ich mit »Belonging«. Wenn beide in einem gesunden Gleichgewicht stehen, dann entsteht ein offenes Herz, Verletzlichkeit und Mut. Stehen sie in keinem Gleichgewicht, dann kämpft die eine gegen die andere Kraft. Viele politische Systeme sind polarisiert, aber sie sprechen im Prinzip die Argumente dieser beiden Kräfte aus. Die einen konservieren die Heimat und die anderen wollen sie ausdehnen, liberalisieren und frei machen.

Es gibt zwei Aspekte, die mir sehr wichtig sind, um dieses Thema zu verstehen. In einem gesunden Beziehungsaufbau von Kindern zu ihren Eltern ist der Vater oder die Mutter eine Säule. Das Kind lernt sich anhand dieser Säule zu entwickeln und seine Autonomie auszubilden, aber in intimer Beziehung zu dieser Säule. Es entsteht eine tiefe Bindung, die auch als Weisheitsausrichtung zur Verfügung steht. In unserer Welt sind aber seit Jahrzehnten viele Eltern zu beschäftigt. Sie sind nicht verfügbar oder selber traumatisiert und können nicht diese Säule sein. Viele Kinder fangen so an, sich an andere Kinder zu binden. Es entsteht eine »Peer-to-Peer-Attachment-Phase«. Damit wird aber die Vertikalität abgeschafft: »Wir wollen keine Autorität, weil wir alle gleich sind wird und von rechts eingenommen wird. Darin schreit die »Belonging«-Kraft, als wäre sie die Wächterin der Heimat. Da ist auch etwas Wahres dran. Wir erleben in den USA und überall diese technologische Explosion. Junge Entrepreneure schaffen neue Firmen und Technologien. Das macht viele Leuten Angst. Intuitiv haben sie Angst vor den Veränderungen, die auf uns zukommen. Dann kommt noch der Klimawandel dazu. Viele Menschen steigen unbewusst auf die Bremse und beziehen sich auf die Heimat als das, was es zu schützen gilt. In der Bewegung ist etwas Richtiges. In der Abschottung, die sie propagiert, schafft sie aber auch das Gegenteil, nämlich eine erneute Explosionskraft, die wieder traumatisierend ist.

Die einen konservieren die Heimat und die anderen wollen sie ausdehnen, liberalisieren und frei machen.

Heimat geht uns alle etwas an. Sie kann nicht von jemandem eingenommen werden, weil sie etwas Universelles ist. Wenn Heimat unsere Großherzigkeit reduziert, ist das ein Alarmzeichen. Wenn wir meinen, es sind Flüchtlinge, die unsere Heimat bedrohen, dann müssen alle Alarmzeichen angehen. Denn dann sprechen wir nicht über Heimat, sondern über eine ungesunde Abgrenzung, in der unser Herz nicht mehr in diesem Gleichgewicht zwischen »Becoming« und »Belonging« ist. Ein offenes Herz hat Großzügigkeit und im tieferen Sinne Weisheit als Ausdruck. In dem Moment, wo es der Abschottung dient, verschließt sich das Herz. Dann sprechen wir nicht mehr über Heimat. Heimat wird hier zu einem Symptom, auf das diese Verschlossenheit projiziert wird. Aber wenn wir uns in diese Spaltung zwischen Konservativen gegen Progressive begeben, dann haben wir das Spiel auch verloren, weil wir zwei universelle Kräfte in verschiedene Lager aufspalten.

Transpersonale Heimat

e: Du hast am Anfang die Gefahr einer »spirituellen Heimat« angesprochen, die eben nicht verkörpert und auch nicht im Leben verwurzelt ist. Gibt es hier nicht eine Verantwortung einer progressiven, integralen Spiritualität zu zeigen, dass Heimat viele Dimensionen hat?

Wenn Heimat nicht nur die konkrete Dimension der eigenen Herkunft und Familie hat, sondern auch eine weltbürgerliche Dimension und eine kosmische Dimension, könnte ein Freiraum entstehen, die gegensätzlichen Perspektiven zusammenzubringen. Dann kann das Ganze in einem offenen Herz miteinander ins Gespräch kommen. Könnte es eine spezielle Aufgabe einer integralen Spiritualität sein, diesen Dialog so zu öffnen und verhärtete Fronten so zueinander zu bringen, dass zwischen diesen »Fronten« Beziehung entstehen kann?

TH: Ja, absolut. Das kann durch eine transpersonale Heimat ent - stehen, wenn sie in einer gesunden Weise praktiziert wird. Wenn ich eben nicht nur darauf reduziert bin, welcher Staatsbürger ich bin oder aus welcher Stadt ich komme, also welche Identität sich in mir gebildet hat, sondern wenn ich den größeren Bewusstseins - raum erlebe, der diese Identität beherbergt. Ein Raum, der genauso andere Identitäten beherbergen kann. Dann gewinnen in der Viel - falt die Unterschiede des Individuellen noch mehr an Schönheit.

Durch spirituelle Praxis entsteht eine Vergrößerung des Be - wusstseinsraumes. So kann mehr und mehr von der Welt in uns Platz nehmen – nicht nur »außen«, sondern es wird auch in unse - rem Inneren eine Realität. Für Menschen, die wie wir auch in der Kultur aktiv und mitgestaltend leben wollen, geschieht dies auch durch unsere Beziehungen, durch Verkörperung. Tiefere Verkörpe - rung und die Erweiterung von Bewusstsein gehen Hand in Hand.

Das bedeutet, dass es zwei Praktiken gibt: die Zustandspraxis, in der mir höhere Bewusstseinszustände zugänglicher werden, und eine Verkörperungs- oder Beziehungspraxis. Beziehung selbst wird zu einer inhärenten, spirituellen Praxis. Dazu gehört meine Schattenarbeit und meine Trauma-Arbeit, in der ich mich mit dem Ungefühlten, Unerlebten, Gefrorenen oder Verletzten auseinan - dersetze. Egal, ob das in meiner Biografie ist, bei meinen Ahnen, in meinem Land oder in der Menschheit an sich. Durch diese Be - schäftigung mit meinen Wurzeln entsteht eine Rückverbindung zu einem Intelligenzfluss.

Mein Körper und dein Körper sind ja nicht nur die Jahre, die im Pass stehen, sondern Hunderttausende von Jahren von gereiftem Leben. So lange wollte das Leben leben, dass wir heute dieses Ge - spräch haben – und darüber hinaus. Das Leben ist nicht einfach mein persönliches Leben. Mein Nervensystem ist Jahrhunderte alt. Alle Menschen, die gerade leben, haben vom Leben einen Auftrag.

Viele Leute fragen: »Wie lange muss ich praktizieren, bis ich erleuchtet werde?« Oder: »Wie lange muss ich Schattenarbeit ma - chen, bis ich gesund bin?« Man erkennt reife Praktizierende dar - an, dass sie diese Frage nicht mehr stellen. Sie gehen einfach den Weg. Was auch immer auftaucht, taucht auf und mit dem beschäftigen wir uns. Egal, wie lange es dauert.

Aber das bedeutet auch, dass wir uns der Weisheit stellen, die uns die Mystik zur Verfügung stellt. Denn die Mystik sagt, dass ein Wachstum nach oben auch das Wachstum nach unten braucht. Wenn wir unser Bewusstsein ausdehnen, muss unser Gefäß, unse - re Menschlichkeit, unsere ethische Handlungsweise mitwachsen. Sonst kommt das aus der Balance. Wenn diese Balance besteht, dann wird Heimat, unsere menschliche Heimat, von einer trans - personalen Heimat umarmt und durchflutet. Damit steht uns eine Ressource zur Verfügung, die eben in der Aussage angesprochen wird: »Gott ist, war und wird sein.«

Author:
Dr. Thomas Steininger
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