Wenn das Meer ganz still wird

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Interview
Publiziert am:

October 19, 2017

Mit:
Andreas Sliwka
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AUSGABE:
Issue 16 / 2017:
|
October 2017
Lichtblicke für eine verwundete Welt
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Humanitärer Einsatz als Antwort auf das Leben

Andreas Sliwka ist Arzt, Psychotherapeut und Yogalehrer. Seit 20 Jahren engagiert er sich immer wieder bei humanitären Einsätzen, zuletzt im Sommer dieses Jahres bei der Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer. Wir sprachen mit ihm über seine Beweggründe, seine Erlebnisse und über die Beziehung zwischen Spiritualität und Aktivismus.

evolve: Was hat dich bewegt, an einer ­Aktion zur Seenotrettung für Flüchtlinge auf dem Mittelmeer teilzunehmen?

Andreas Sliwka: Das war eigentlich recht spontan, es ging keine rationale Abwägung voraus. Jemand von Sea-Eye hielt einen Vortrag in unserem Wohnprojekt. Nach dem Vortrag habe ich mich spontan entschieden mitzufahren und zwei Tage später hatte ich den Termin für meinen Einsatz.

e: Das war nicht das erste Mal, dass du dich zu einem solchen Einsatz entschieden hast.

Wenn im Mittelmeer Menschen ertrinken, kann ich nicht nur meditieren, da muss ich handeln.

AS: Ja, das erste Mal war ich 1994 bei einem humanitären Einsatz während des Völkermords in Ruanda. In der Tagesschau sah ich die Bilder von den Leichenbergen am Straßenrand und den völlig verstümmelten Menschen. Und in der Zeitung las ich, »Die deutsche Regierung sieht derzeit keinen Anlass für humanitäre Hilfen.« Da ist mir der Kragen geplatzt und ich bin zum Tropeninstitut, hab’ mich impfen lassen und zwei Wochen später war ich als Arzt in einem der Flüchtlingslager. Es war ein Akt der Entrüstung, der mich zum Handeln bewegt hat. Das ist mir immer wieder passiert. 2008 war ich auf den Philippinen in einem Urwald-Hospital und 2013 habe ich als Arzt in München auf dem Rindermarkt Asylsuchende betreut, die in einen trockenen Hungerstreik getreten waren.

e: Wie ist euer Einsatz im Mittelmeer abgelaufen? Und was waren für dich die einprägsamsten Erlebnisse?

AS: Als ich in Malta angekommen bin, wo die »Seefuchs« vor Anker lag, hatte ich sofort das Gefühl, dass ich am richtigen Ort bin. Der Kapitän kam an Bord und gab uns ein Briefing. Von dem Moment an waren wir wie ein Körper, es war ein unglaubliches Gemeinschaftserlebnis. Auf so einem Schiff – 26 Meter lang, 6 Meter breit – mit 13 Leuten auf engstem Raum ist kein Platz für Zwistigkeiten.

Von Malta aus fuhren wir durch die Nacht zu unserem Einsatzort. Ein Erlebnis bei der Überfahrt blieb mir sehr im Gedächtnis: Wir näherten uns langsam dem Suchgebiet, da schwamm auf einmal ein graues Schlauchboot, 80 Prozent unter Wasser, nur noch eine kleine Luftkammer hielt es an der Wasseroberfläche. Es war leer. Üblicherweise wird auf Schlauchboote, wenn die Menschen in Sicherheit sind, mit Sprühlack SAR –­savedandrescued – geschrieben. Aber auf diesem Boot war keine Aufschrift. Das Meer war spiegelglatt und plötzlich schwimmt da so ein Schlauchboot. Wir waren alle ganz still und jeder hat gedacht, diese 130 oder 140 Leute haben es wahrscheinlich nicht geschafft. Da wird einem bewusst, was für eine Katastrophe das eigentlich ist.

Unser Suchgebiet lag im Westen vor der libyschen Küste. Wir sind dort an der 30-Seemeilen-Grenze parallel zur Küste auf und ab gefahren. Am zweiten Tag kam es dann zu unserem ersten Einsatz. Die Rettungsleitstelle für Seenotschiffe in Rom hatte uns in der Nacht die Koordinaten von Flüchtlingsbooten durchgegeben. Es waren 275 Leute auf zwei Boote verteilt. Zeitgleich mit uns kam ein großes Schiff, die »Phönix« von MOAS (Migrant Offshore Aid Station), die die Menschen an Bord genommen und nach Sizilien gebracht hat.

Danach kam starker Nordwind auf und wir haben in der tunesischen Hafenstadt Zarzis Schutz gesucht. Dort lagen wir drei Tage vor Anker und haben einen Tunesier kennengelernt, der ehrenamtlich die angetriebenen Wasserleichen bestattet. Er meinte, die Menschen hätten es nicht verdient, keine Bestattung zu bekommen. Deshalb hat er es sich zur Aufgabe gemacht, den Toten die letzte Ehre zu erweisen. Mit der ganzen Besatzung sind wir mit ihm zu diesem Friedhof gefahren. Da kam gerade ein Pick-up mit einer Wasserleiche aus Djerba an. Wir haben ein Grab ausgehoben und den Mann beerdigt. Unser Skipper hielt eine Trauerrede und wir haben das Grab zugeschaufelt, einen Naturstein darauf gesetzt und uns von dem Toten verabschiedet. Wir waren alle still – es waren ja auch junge Leute dabei, die noch nie einen toten Menschen gesehen haben. Der Tunesier hat uns erzählt, dass allein im Juni 30 Tote angetrieben wurden.

e: Was war der innere Beweggrund, der dich immer wieder dazu veranlasst hat, so spontan humanitäre Hilfe zu leisten? Gab es manchmal auch Zweifel?

AS: In meiner Jugend habe ich mich in der Kirche engagiert und dieser Einsatz für die Welt gehört schon zu meinem Selbstverständnis. Später habe ich dieses christliche Umfeld verlassen und gleichzeitig überlegt, ob ich bei »Ärzte ohne Grenzen« mitarbeiten kann, was aber mit einer eigenen Praxis nicht vereinbar war. Deshalb waren diese kürzeren Einsätze für mich eine gute Möglichkeit. Nachdem ich mich mehr und mehr mit Meditation, Yoga und integraler Philosophie beschäftigt habe, ist mir ein Satz der spirituellen Lehrerin Christina Kessler zum ethischen Motto geworden: »Frage nicht, was du vom Leben willst, sondern frage dich, was das Leben von dir will.« Ich habe in meinem Leben viel Glück gehabt, ich hatte ein gutes Elternhaus, ich habe eine nahtlose Karriere, mir ging es vom äußeren Rahmen her immer gut. Da kann ich dem Leben schon etwas zurückgeben und irgendwie brauche ich das auch. Nur zu Hause sitzen, Dienst nach Vorschrift machen und meinen eigenen kleinen Luxus verwalten, das ist mir zu wenig.

Zweifel gibt es natürlich auch. Der Einsatz 1994 in Ruanda war schon eine ziemlich riskante Sache. Die ersten Tage hatte ich Angst, nicht heil aus der Sache rauszukommen. Es ging wohl allen so ähnlich. Und dann saß ich mit meinem Team in einem Außenposten ohne Verbindung zum Basiscamp, umringt von einer unüberschaubaren Menge von Menschen und habe einfach den ganzen Tag Patienten versorgt. Dabei hatte ich immer wieder den Gedanken: Der Typ hier hat vielleicht vor zwei Wochen zig Leute massakriert und jetzt will er deine Hilfe. Oder anders rum: Du hilfst ihm hier und morgen wird er von jemandem umgebracht. Da wurde mir klar, dass es gar nicht darum gehen kann, mein Handeln zu relativieren oder in Zweifel zu ziehen. Da ging es einfach nur darum, in der augenblicklichen Situation das zu tun, was getan werden muss. Das war für mich eine wertvolle Erfahrung. Einfach handeln, ohne Bedingungen in Erwägung zu ziehen.

e: Es gibt auch Menschen, die von einem subtilen Aktivismus oder spirituellen Aktivismus sprechen. Wie siehst du die Beziehung zwischen Spiritualität und Aktivismus?

AS: Meines Erachtens müssen wir hier etwas ganz klar auseinanderhalten. Wenn wir auf eine Transformation des Bewusstseins hinarbeiten, dann sprechen wir von sehr langen Zeithorizonten. Gleichzeitig haben wir Menschen ein ungeheures Zerstörungspotenzial. Sich also nur mit der Transformation des Bewusstseins zu beschäftigen, reicht für mich nicht. Natürlich kann ich in meinem Umfeld schauen, dass ich zum Beispiel durch die Psychotherapie oder als Yogalehrer Menschen auf einem integralen inneren Weg unterstütze. Aber es gibt Probleme, da brauchen wir sofort Lösungen. Wenn im Mittelmeer Menschen ertrinken, kann ich nicht nur meditieren, da muss ich handeln.

Als 2011 die Occupy-Bewegung in München angekommen ist, war ich mitten drin. Schon damals dachte ich mir, dass den politischen Aktivisten die Spiritualität fehlt und den spirituell orientierten Leuten fehlt es an Aktivismus. Und beide wollen miteinander nichts zu tun haben. Da ist in der Mitte eine Lücke und die sähe ich gerne gefüllt. Es ist wichtig, dass wir irgendwo in der Mitte zwischen Spiritualität und Politik eine neue Lebenskultur entwickeln. So können wir die Spiritualität in die Mitte der Gesellschaft holen und sie dabei auch neu erfinden.

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Author:
Mike Kauschke
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