Wenn das Unglaubliche glaubhaft wird

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Published On:

October 24, 2022

Featuring:
Alexander Beiner
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 36 / 2022
|
October 2022
imagine!
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Psychedelika und Imagination

Für Alexander Beiner sind psychedelische Erfahrungen ein Weg, um unsere Vorstellungskraft zu öffnen. Seit Jahren erforscht er solche Erfahrungen im eigenen Erleben und der philosophischen Reflexion. Wir sprachen mit ihm darüber, warum es für ihn wichtig ist, bekannte Denkwege zu verlassen, und was einem begegnet, wenn man sich auf das ganz Andere einlässt.

evolve: Was verstehst du unter dem Begriff Vorstellungskraft oder Imagination?

Alexander Beiner: Die Vorstellungskraft hat meiner Wahrnehmung nach etwas Geheimnisvolles an sich. Ich bin mir gar nicht sicher, dass sie notwendigerweise aus unserem aktuellen Bezugsrahmen erwächst. Vielleicht wurzelt sie auch in etwas, das jenseits von uns liegt. Etwas praktischer ausgedrückt denke ich, dass die Vorstellungskraft unsere Fähigkeit ist, sich etwas vorzustellen, das jenseits unseres derzeitigen Wirklichkeitsrahmens liegt. Es ist verblüffend, dass wir diese Fähigkeit haben. Sie zählt zu den Fähigkeiten, die uns zum Menschen machen. Ich glaube nicht, dass wir ohne die Gabe der Imagination wirklich Mensch sein könnten – also ohne die Fähigkeit, uns nicht nur mögliche Zukünfte für unser Überleben vorzustellen, sondern tatsächlich ein ganzes Universum, das wir erschaffen und bewohnen könnten.

Wir können die Vorstellungskraft auch als eine emergierende Eigenschaft komplexer Systeme betrachten. Ich verbinde sie auch sehr stark mit Neuartigkeit. Vorstellungskraft ist für mich ein Prozess des Experimentierens mit Neuem in einem geistigen Raum der Ideen. Und dann müssen wir das schließlich in die Realität umsetzen. Wir müssen jemand anderen davon überzeugen, diesen Weg gemeinsam mit uns zu gehen. Ein wichtiger Teil des Prozesses ist also die Fähigkeit, die »große Idee« zu erklären und die Leute mit ins Boot zu holen. Es ist ein gemeinschaftlicher Prozess.

e: Ich finde es wichtig, dass du auf das Mysterium der Vorstellungskraft hinweist, denn wir können nicht darüber verfügen. Sie ereignet sich, und ich habe das Glück, das Instrument dafür zu sein. Sie hat sich meiner Erfahrung bedient, aber irgendwie entstammt sie einem ordnenden oder integrierenden Prinzip, das dem Leben selbst oder dem Kosmos innewohnt.

AB: Das erinnert mich an die Vorstellung der Muse. Da ist dieses Empfinden, dass es »eine Eingebung aus einer Quelle« gibt. Das ist auch mit der Erfahrung von Demut verbunden, denn in unserer einzigartigen Perspektive können wir versucht sein, uns das Vorstellungsvermögen zu eigen zu machen. Aber letztendlich ist es für alle da. Es ist gemeinschaftlich. Neue Ideen, neue Vorstellungen und neue Geistesschöpfungen sind für alle da. Keiner von uns verfügt über alle Fähigkeiten, sie zu verwirklichen.

Den Rahmen sprengen

e: Die Befreiung unserer Vorstellungskraft scheint ein wesentlicher Aspekt für den Kulturwandel zu sein. Solange wir nicht daran glauben, dass ein solcher Wandel wirklich möglich ist, wird die Veränderung nicht geschehen.

¬ VORSTELLUNGSKRAFT IST FÜR MICH EIN PROZESS DES EXPERIMENTIERENS MIT NEUEM IN EINEM GEISTIGEN RAUM DER IDEEN. ¬

AB: Dem kann ich nur zustimmen. John Vervaeke spricht von der Notwendigkeit, bisherige Bezugsrahmen aufzubrechen und neue Perspektiven zuzulassen. Er verdeutlicht das an dem Beispiel einer Brille, die wir absetzen. Achtsamkeit ist beispielsweise ein solcher Prozess, bei dem wir einen Schritt zurücktreten, um mit unseren Sinnen wahrzunehmen und zu bemerken: »Oh, wow, wenn ich einen Schritt zurücktrete, nehme ich wahr, dass mein Verständnisrahmen zu eng war.« Und wenn wir einen neuen Rahmen zulassen, ist der idealerweise größer als der vorherige und umfasst mehr von der Welt. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, eine solche Perspektivenerweiterung zu unterstützen: Achtsamkeit, tiefe Dialoge und Gespräche, verschiedene Arten der Prozessarbeit, aber auch das Reisen sind sehr gute Wege, eine solche Weitung einzuladen. Sie zwingen uns dazu, unseren kulturellen Referenzrahmen zu vergrößern.

Mein eigenes Interesse gilt in diesem Zusammenhang besonders den Möglichkeiten, die Psychedelika dabei spielen können. Psychedelika machen das Unglaubliche glaubhaft. Sie ermöglichen uns Wahrnehmungen, die jenseits unseres üblichen Verständnisrahmens liegen. In ähnlicher Weise ist auch die Vorstellungskraft ein Versuch zu begreifen, was gerade außerhalb unseres gewohnten Wahrnehmungsrahmens liegt. Denn der imaginative Prozess weitet den Blick über das hinaus, was direkt vor uns liegt.

Eine der Schlüsselkomponenten für einen nachhaltigen Systemwandel ist ein hohes Maß an Kreativität und Vorstellungskraft, um das erfassen zu können, was jenseits des bereits Bekannten liegen könnte. Psychedelika wirken sich positiv auf eine solche seelische Offenheit der Menschen aus. Sie öffnen uns für neue Ideen, insbesondere in der konkreten Erfahrung. Sie intensivieren die Verbindungen zwischen verschiedenen Regionen des Gehirns. Es werden verschiedene Verbindungen zwischen Ebenen unserer eigenen Erfahrung, unseren Erinnerungen und unserer Selbstwahrnehmung hergestellt. Alles fließt auf eine völlig neue Weise in alles andere ein.

Und dann ist da noch das Element der Neuartigkeit. Terrence McKenna, der psychedelische Philosoph, hat darüber berichtet. Sein Argument, weshalb solche Erfahrungen für ihn real waren, stützte sich darauf, dass er sich den Inhalt, den er erlebte, unmöglich vorher hätte vorstellen können. Die Vorstellung, dass wir die Fähigkeit haben, uns Neues in einem Maße zu imaginieren, das wir uns vorher nicht hätten vorstellen können, macht große Hoffnung.

e: Die Wissenschaft tendiert dazu, die Wirkung psychedelischer Erfahrungen auf neurologische Effekte zu reduzieren. Wie siehst du das?

AB: Das ist ein wichtiger Punkt, denn er spricht unsere Unfähigkeit an, uns ein System außerhalb des bestehenden vorzustellen. Eine der wichtigsten Spannungen in der psychedelischen Szene und in der wissenschaftlichen Diskussion ist die Frage, was Bewusstsein ist, das »schwierige Problem des Bewusstseins« (»the hard problem of consciousness«, wie es David Chalmers nennt). Ist es, wie es die materialistische Wissenschaft sieht, ein Nebenprodukt physikalischer Prozesse? Besteht die Realität im Wesentlichen aus Materie? Die meisten Wissenschaftler tendieren zu einer physikalischen Sichtweise, um ernst genommen zu werden.

¬ PSYCHEDELIKA ERMÖGLICHEN UNS WAHRNEHMUNGEN, DIE JENSEITS UNSERES ÜBLICHEN VERSTÄNDNISRAHMENS LIEGEN. ¬


Wir haben also auf der einen Seite den Physikalismus und auf der anderen Seite den Idealismus, also die philosophische Position, die davon ausgeht, dass das einzig Wirkliche der Geist ist. Die Welt ist ein grundlegend geistiges, erfahrungsbezogenes Phänomen, und es gibt nichts Festes als solches. Und irgendwo in der Mitte finden wir den Panpsychismus, das ist meine Position und die vieler Menschen, die Psychedelika nehmen.

Der Philosoph Charles Hartshorne spricht von einem Phänomen, das er »prosaic fallacy« nennt. Es besagt, dass wir uns nichts, was über den Physikalismus hinausgeht, vorstellen können, weil uns die Vorstellungskraft dazu fehlt. Philosophen mit psychedelischer Erfahrung haben argumentiert, dass solche Erfahrungen genau das sind, was wir brauchen, um diesen Trugschluss zu überwinden, weil wir dann plötzlich die lebendige Erfahrung machen, dass die Welt bewusst ist. Auch eine neue Studie von der John Hopkins University weist darauf hin, dass Psychedelika den Menschen diese Erfahrung als bleibenden Eindruck vermittelt. Sie verhilft uns zu einer Sichtweise der Dinge, die dem Animismus ähnelt. Wir nehmen eine Wirkkraft in der Welt wahr, anstatt sie als einen toten Ort zu betrachten. Und das ist der wichtigste tiefgreifende Wandel, den wir in Bezug auf unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit brauchen, wenn wir die Umweltkrise, die Sinnkrise und viele andere Aspekte der Krise, mit der wir konfrontiert sind, bewältigen wollen. Wir brauchen diesen tieferen Wandel hin zu etwas, das dem Panpsychismus oder einer neuen Art von Animismus näherkommt.

Erlebte Verbundenheit

e: Das ist wirklich interessant, denn man kann einen philosophischen oder intellektuellen Zugang zum Panpsychismus haben. Aber Psychedelika führen einen in diese Erfahrung der Lebendigkeit, die überall und auf allen Ebenen anwesend ist, die man vorher nicht wahrgenommen hat.

AB: Ja, absolut, und das kann sehr tief mit der Erfahrung von Mitmenschlichkeit verbunden sein. Es entsteht dann eine weitgehende Teilhabe an den Erfahrungen anderer Menschen, ihr Leiden wird miterlebt. Mein Freund Leor Roseman, ein Neurowissenschaftler, der psychedelische Forschung betreibt, hat gerade die zweite Phase eines Projekts beendet, bei dem er Israelis und Palästinenser untersucht hat, die gemeinsam Ayahuasca, einen psychedelisch wirkenden Pflanzensud, trinken.

Die erste Phase fand mit den Teilnehmern in Israel statt, in der zweiten Phase reisten drei Gruppen von Teilnehmenden nach Spanien an einen neutralen Ort, um dort einen Prozess zu erleben, der wesentlich stärker auf Konfliktlösung und Aktivismus ausgerichtet war. Roseman beschreibt ein gemeinsames Empfinden von Leid, das spürbar war. Es gab auch ein geteiltes Gefühl von »wir sind die Heilung«, das manchmal im Kreis präsent war: »Diese lebendige Erfahrung, die wir gerade jetzt machen, ist die Heilung, die nötig ist.« Aber ganz so einfach war das Ganze natürlich auch nicht, es traten auch Spannungen auf. Zum Beispiel fing jemand an, auf Arabisch zu singen, und dadurch fühlten sich einige Israelis provoziert. Es war ein komplexer Prozess, den sie durchleben mussten, aber das ist Teil der Arbeit. Eines der Ergebnisse daraus ist ein echtes Gefühl der Fürsorge füreinander.

Die gelebte Erfahrung, miteinander verbunden zu sein und eine bewusste Erfahrung zu teilen, auch mit der Natur, kann uns tiefgreifend verändern. Die Verbundenheit mit der Natur wird durch Psychedelika verstärkt, sogar über unseren eigenen Planeten hinaus in den Kosmos. Oft haben Menschen die Erfahrung, ein Vogelschwarm, ein Stern oder ein ganzes Universum zu sein.

e: Das deutet auf die Frage, wie wir uns in eine andere Welt hineinversetzen können. Wie kann unsere Vorstellungskraft dazu beitragen, uns in eine andere Welt zu versetzen oder die Möglichkeit einer anderen Welt zu eröffnen? Und du sagst, dass der tiefste innere Ort, an dem wir unsere Fähigkeit der Vorstellungskraft öffnen müssen, eine andere Dimension der Realität anspricht, die wir durch Psychedelika unterstützen können, weil Psychedelika die grundlegende Trennung zwischen dem isolierten, bewussten Menschen und der Welt da draußen aufheben. Und wenn diese Trennung überwunden wird, kann man sich alles Mögliche vorstellen. Und dann wird das Unglaubliche glaubhaft.

¬ PSYCHEDELIKA SIND EINE MEDIZIN UND UNTERSTÜTZEN DIE TRANSFORMATION, ABER SIE WIRKEN NICHT LOSGELÖST FÜR SICH ALLEIN. ¬

AB: Ich bin sehr interessiert daran herauszufinden, wie wir diese Substanzen richtig einsetzen können. Psychedelika sind eine Medizin und unterstützen die Transformation, aber sie wirken nicht losgelöst für sich allein. Sie entfalten ihre Wirkung nur in Synergie mit der sie umgebenden Alltagspraxis und dem kulturellen Rahmen, in dem diese Praxis stattfindet. In indigenen Kulturen gibt es eine reichhaltige »Kosmologie« rund um die Verwendung von Ayahuasca oder Psilocybin-Pilzen. Dort existiert ­eine tiefgehende, mythische und praktische Kontextualisierung rund um diese Erfahrungen, die den Menschen hilft, diese zu interpretieren und sie sinnvoll in ihr Leben zu integrieren.

In der westlichen Welt haben wir so etwas nicht. Wir wissen häufig nicht, was wir tun und warum wir es tun. Wir haben keinen Zugang zu einer solchen Art von Kosmologie jenseits der materialistischen Wissenschaft, die uns keinen wirklichen Sinn vermittelt. Die eigentliche Hoffnung liegt also in der Kombination von Psychedelika mit Praktiken, die uns dabei helfen, miteinander in Verbindung zu treten und auch der Komplexität einen Sinn zu verleihen, z. B. durch Gruppenprozesse, gemeinsame Erforschungen unserer Sinngebung, tiefere Betrachtungen über die Erneuerung unserer gesellschaftlichen Systeme.

Das ist der eigentliche Gewinn dieser Arbeit, abgesehen von der therapeutischen Seite, die auch sehr wichtig ist. Es gibt viele leidende Menschen, denen durch Psyche­delika geholfen werden könnte, aber das ist nur ein Aspekt. Genauso wichtig ist es, die kulturellen Systeme zu ändern, die zu einem so hohen Maß an psychischen Problemen führen. Denn die Krise im Bereich der psychischen Gesundheit wird nicht durch einen Mangel an guten Medikamenten verursacht, sondern durch verflochtene systemische Probleme auf tiefster Ebene unserer Kultur, insbesondere verursacht durch wirtschaftliche Ungleichheit.

Eine Quelle von Hoffnung

e: Glaubst du, dass der Durchbruch der Vorstellungskraft einer der Gründe ist, warum sich Menschen zu psychedelischen Erfahrungen hingezogen fühlen?

AB: Viele Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Psychedelika eine verbindende Wirkung haben. Zuweilen werden Psychedelika auch als »Ökodelika« bezeichnet, was bedeutet, dass sie uns auf eine sehr tiefe Weise mit der Umwelt verbinden können. Sie verbinden uns auch mit uns selbst, mit Teilen von uns, die wir zuvor nicht wahrnehmen konnten. Das Gefühl der Verbundenheit ist also ein echter Schlüsselfaktor.

Aber es geht auch um die Verbindung zur Wirklichkeit, die Verbindung zu einem tieferen Gefühl, jetzt und hier in der Welt zu sein, was auch bedeutet, dass wir mit der Vorstellungskraft verbunden sind. Wenn wir die Vorstellung ernst nehmen, dass das Universum ein Bewusstsein hat, dann wohnen Kreativität und Neuartigkeit dem Universum inne. Wir betrachten das als eine Art evolutionären Drang zu Neuheit und Vielfalt. Wenn wir Psychedelika einnehmen, schöpfen wir aus diesen Ebenen der Wirklichkeit und machen eine lebendige Erfahrung damit. Viele Menschen erleben das wie eine Heimkehr: »So fühlt es sich also an, lebendig zu sein.« Die Hoffnung und die Vorstellungskraft sind ein Aspekt, der bei Depressionen, Angstzuständen, Essstörungen und Posttraumatischen Belastungsstörungen so heilsam ist. Sie ermöglichen es uns, uns etwas Neues vorzustellen, eine neue Art, in der Welt zu sein, wie es uns vorher nicht möglich war.

e: Und sie durchbricht unsere starren, von Hoffnungslosigkeit geprägten Muster.

AB: Das ist ein wirklich guter Punkt, denn wenn man einen Systemwechsel anstrebt, kann man bei Rückschlägen leicht in Nihilismus oder Depression verfallen. Psychedelika und andere Erfahrungen dieser Art können unsere Vorstellungskraft beflügeln und uns einen Sinn für das Mögliche geben.

e: Und wir sind dafür auf unsere ganze Vorstellungskraft angewiesen, um diese neue Welt zu schaffen, die wir so dringend brauchen.

AB: Ja, genau, das ist meine Hoffnung.


Author:
Dr. Elizabeth Debold
Share this article: