Wir und die Wunden der Welt

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

October 19, 2017

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Issue 16 / 2017:
|
October 2017
Lichtblicke für eine verwundete Welt
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Die öffnende Kraft bezeugender Präsenz

Anja Mattenklott

Die Nähe im Miteinander wiederzufinden, bedarf auch einer Kultur des inneren und äußeren Dialogs.

Das Leben in der Welt von heute gleicht einem Schlachtfeld. Die Kriege der Vergangenheit und die Kämpfe der Gegenwart haben sich tief in unsere Seelen eingegraben. Doch vielleicht können wir unseren unbewussten Selbsterhaltungstrieb des Wegschauens und der Erstarrung durchbrechen. Im gemeinsamen Bezeugen des allgegenwärtigen Schmerzes kann sich etwas in uns allen öffnen – für das Leben als ein Ganzes.

Ich sitze vor meinem Computerbildschirm. Aber eigentlich bin ich Teil eines Online-Gesprächs mit zwölf guten Freunden, alle über die Welt verteilt, Freunde aus Indien, Australien, Taiwan, Hawaii, Skandinavien, den USA. Wir sehen uns seit Jahren regel­mäßig, aber die meisten von ihnen habe ich bisher nur auf dem Bildschirm meines Laptops zu Gesicht bekommen. Trotzdem ist zwischen uns echte Freundschaft entstanden. Oft lachen wir miteinander. Heute nicht. Eine Freundin von den Philippinen hat Tränen im Gesicht. Aninay erzählt von den Rollkommandos in ihrer Heimatstadt Manila, wo unter dem neuen Präsidenten Duterte auf dessen Anordnung mittlerweile Tausende Drogensüchtige und vermeintliche Drogenhändler einfach auf offener Straße erschossen werden. Sie kennt einige der Opfer. Aber sie erzählt auch von den unüberwindlichen Konflikten in ihrer Gruppe philippinischer Friedensaktivisten, in der sie seit vielen Jahren aktiv ist.

Nicht alle ihrer Freunde dort finden den mordenden Präsidenten schrecklich. Für manche in diesem verzweifelten Land ist er trotz dieser Grausamkeiten so etwas wie eine letzte Hoffnung für die Armen. Der Konflikt zwischen ihnen über sein brutales Vorgehen hat ihre Aktivisten-Gruppe schon fast zerstört. Was kann ich für Aninay tun? Später wird sie uns erzählen, wie wichtig es für sie war, einfach gehört zu werden. Unsere Anwesenheit hat sie berührt und auch gehalten. Das erlaubt ihr, auf eine ganz andere Weise mit ihren Freunden in ihrem Land zu sein. Es gibt viele Menschen wie Aninay. Und es ist einfach, sich abzuwenden, aber das hat nicht nur Auswirkungen auf diejenigen, die in Bedrängnis sind. Auch unsere eigenen Herzen ziehen sich zusammen. Wie lebt man in einer verwundeten Welt?

Die Wunden der Welt

Die Philippinen sind ein wunderschönes Land, aber eines mit einer bewegten Geschichte. Ich kenne sie gut, weil mich viel mit diesem Land verbindet, seit ich es in jungen Jahren bereist habe. Über 500 Jahre waren die Inseln eine abgelegene spanische Kolonie. Um 1900 übernahmen die USA die Kontrolle über das Land. Im Zweiten Weltkrieg wüteten die Japaner. Danach wurden die Philippinen formal unabhängig. Über Jahrzehnte lähmten Bürgerkriege zwischen maoistischen Guerilleros und den Großgrundbesitzern die Region, dann die bizarre Marcos-Diktatur, die das Land buchstäblich ausplünderte. Aber man sieht den Philippinern ihr hartes Los nicht an. Sie sind fröhliche, herzenswarme Menschen. Doch ihr Land ist ein von seiner Geschichte traumatisiertes Land. Meine Freundin Aninay erzählte uns bei einem unserer Online-Treffen, wie sie über Jahrzehnte kein weißes, europäisches Gesicht sehen konnte, ohne dass in ihr Wut aufstieg. Und sie erzählte uns von dem Minderwertigkeitsgefühl, das sie empfindet, weil sie Philippinin ist. Wir können unsere Welt nicht fühlen, wenn wir nicht auch ihre Dramen verstehen, unsere eigenen und die der anderen sind miteinander verbunden.

Die Weltgeschichte ist durchzogen von solchen Dramen, die ihre Spuren in uns hinterlassen haben. Und sie prägen unsere Sicht auf die Welt und die Art und Weise, wie wir in ihr sind. Nehmen wir Europa. Unsere eigene europäische Geschichte ist von traumatisierenden Wunden gezeichnet, auch unsere jüngere Geschichte – zwei Weltkriege, der Holocaust an den Juden und anderen Minderheiten, das Massenelend der Zwischenkriegszeit und die Sowjet­herrschaft im Osten des Kontinents sind Ereignisse, die uns tief gezeichnet haben.

Jeden Tag hören wir in den Nachrichten von Kriegen und Konflikten nicht weit entfernt von unseren eigenen Grenzen. Wie oft wünscht man sich, sie würden einfach verschwinden, sich in Luft auflösen. Zum Beispiel die Ukraine. Wir ahnen kaum, wie traumabesetzt der Ukrainekonflikt ist. Die Ukraine war einmal das Herz der russischen Kultur. Die russisch-orthodoxe Kirche ist in Kiew entstanden. Die russische Seele selbst ist von jahrhundertelanger Gewaltherrschaft geprägt, aber auch von Jahrhunderten der Unterdrückung durch die islamischen Tataren. Auf der anderen Seite haben die Ukrainer nie den »Holodomor« vergessen, als Stalin 1932 zwischen zwei und sieben Millionen Ukrainer absichtlich verhungern ließ, um die politisch Abtrünnigen zu »disziplinieren«. Wenn ich ein Foto eines ukrainischen Milizionärs sehe, sehe ich auch den Gordischen Knoten der ukrainisch-russischen Geschichte?

Oder Pakistan, ebenfalls ein traumatisiertes Land. Heute wird es als ein Zentrum des terroristischen­Islam wahrgenommen. Aber wir können die Pakistani nicht verstehen, ohne zu sehen, dass ihre Väter einst das Herz des muslimisch dominierten Indiens waren. Über Jahrhunderte herrschten die muslimischen Mogule über Indien, die Moslems waren ein integrierter Teil des Landes. Bei der Teilung Indiens 1947 wurden Millionen Muslime von Indien nach Pakistan getrieben. Gleichzeitig trieb man über Nacht Millionen Hindus von Pakistan und Bangladesh nach Indien. Bis zu zwei Millionen Menschen starben auf beiden Seiten.

Pakistan ist seitdem nur mehr ein Schatten seiner großen Vergangenheit. Wie lebt diese Geschichte in der Wut, im Stolz, aber auch in den Depression und der Niedergeschlagenheit der heutigen Pakistani? Kann ich selber diese Komplexität menschlichen Dramas in mir halten?

Trauma – kulturelles Trauma

Wir sind uns meist nicht bewusst, wie sehr unsere Traumata unsere Wahrnehmung von anderen Menschen und Kulturen prägen. Trauma, das ist gefrorene, ausgegrenzte Wirklichkeit. Irgendwann, oft bereits in unserer Kindheit, machen wir Erfahrungen, die uns so überwältigen, dass sie uns im Herzen unserer Existenz bedrohen. Es ist ein »Zuviel«, das wir nicht ertragen können. Und diese Nacktheit unserer kindlichen Verletzlichkeit ist oftmals auch für die Generation unserer Eltern »zu viel«, da sie im Angesicht der Bedrohungen ihrer Zeit ja selbst gelernt haben, nicht zu viel zuzulassen. Die traumatisierte Situation will nur eines: »das nicht mehr erfahren«. So werden Bereiche unserer inneren Wirklichkeit zu Tabuzonen, die wir nicht mehr betreten. Wir wissen nicht einmal, dass sie existieren. Der bekannte Psychotherapeut Joachim Galuska meinte einmal, das ganze Geheimnis der Psychotherapie bestehe eigentlich nur darin, dass kompetente fürsorgende Menschen uns helfen, diese inneren Tabuzonen, die uns von unserer Kraft unserer vollen Menschlichkeit trennen, wieder begehbar zu machen.

Was eine Heilung oft erschwert, ist, dass diese Traumata nicht allein unsere persönlichen sind. Manchmal sind sie auch Teil eines Familientraumas, eines kollektiven und geschichtlichen Traumas. Der Jugoslawienkrieg in den 1990er Jahren wäre so nicht geschehen, hätte es am Balkan nicht die uralten Wunden der Kirchenspaltung zwischen Orthodoxer und Katholischer Kirche und die Folgen einer jahrhundertelangen türkischen Besatzung gegeben. Im Tito-Sozialismus waren diese Themen tabu. Danach brachen sie umso stärker auf. Wiederholungszwang, das nochmalige Ausagieren traumatischer Ereignisse geschieht nicht nur auf einer psychologischen Ebene. Das ist einer der Gründe, warum sich Geschichte wiederholt, und so entsteht ein Kreislauf der Traumatisierung.

Die Verantwortung und Chance der Deutschen

Anja Mattenklott

Kürzlich war ich auf der Jubiläumsfeier einer Organisation für Leadership-Entwicklung, die sich in ihrer Arbeit bewusst der Vergangenheit des Nationalsozialismus zuwendet. Einige der Anwesenden tauschten sich über ihre eigenen Führungserfahrungen aus, und in ihrem Gespräch waren die Taten ihrer Onkel, Großväter und Väter sehr präsent. In diesen Menschen schien eine Stärke auf, eine Demut und Würde. Ihr Trauma ließ sie nicht erstarren, sondern es schien ihnen Bodenhaftung zu geben, Stabilität und Wärme. In der Nachkriegsgeneration haben sich viele Menschen auf tiefe Weise der persönlichen Heilung verschrieben. Hier hat sich darüber hinaus mit all ihren Widersprüchen eine neue Besinnungskultur entwickelt.

Diese Fähigkeit zur Selbstreflexion kann dazu beitragen, dass Geschichte sich nicht wiederholt. Die gegenwärtige Flüchtlingswelle führt zu einer Reaktivierung des Traumas, das viele Menschen durch den Krieg erlitten haben. Viel hängt davon ab, wie seine Bewältigung gelingt. Der Einzug der AfD in den Bundestag könnte womöglich auch einen positiven Effekt haben, denn viele der Ressentiments, die bis heute in der politischen Öffentlichkeit noch immer mit einem Tabu belegt sind, werden künftig in der parlamentarischen Auseinandersetzung sichtbar werden. Stellen wir uns vor, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn es den Deutschen möglich wird, sich ihren Schatten zuzuwenden, den Aspekten des Kriegstraumas, die sie bis heute nicht in sich selbst zugelassen und in die Kultur integriert haben. Eine solche Öffnung könnte den westlichen Werten, für die Deutschland steht, Kraft und Stärke verleihen. Es wird ein schmerzhafter Prozess, aber es ist durchaus möglich, dass die deutsche Öffentlichkeit reif genug ist, sich diesem Prozess jetzt zu stellen, ihn offen auszutragen und sich vielleicht sogar zu transformieren.

Wir sind eine Menschheit und wir sind gespalten

Unsere verwundete Welt braucht von uns wahrscheinlich eine reifere Beziehung zu Schmerz und Leid. In Anbetracht all der Schichten von Traumata, die unsere Erde hält, einschließlich ihrer eigenen Wunden, erscheint die Vorstellung, dass es uns in unserem Leben heute vordergründig darum geht, ohne Leid und Schmerz zu sein, beinahe unmenschlich. Allenfalls Neugeborene haben noch keine Wunden, und selbst das ist fraglich, denn wir wissen, dass Traumata auch über Generationen übertragen werden. Natürlich möchte niemand Schmerz empfinden, aber Empfindungslosigkeit ist ein Zeichen von Traumatisierung.

Technologie bringt uns einander näher. Sie erlaubt uns, einander zu begegnen. Diese Begegnung kann von Distanziertheit oder von menschlicher Nähe getragen sein. Wir erschaffen den »Anderen«, den »Fremden« durch uneingestandenen Schmerz und Angst, die wir auf die anderen projizieren. Den »Anderen« statt den Menschen zu sehen, ist das offensichtlichste Zeichen unserer Traumatisierung, des Mangels an Leichtigkeit und Vertrauen, mit dem wir in der Welt sind.

Wir können unsere Welt nicht fühlen, wenn wir nicht auch ihre Dramen verstehen.

Die Nähe im Miteinander wiederzufinden, bedarf wahrscheinlich auch einer Kultur des inneren und äußeren Dialogs. Hier sind wir sehr persönlich gefragt. Um unseren verengten Blick zu öffnen, braucht es eine innere Bereitschaft, immer wieder die Beziehung mit dem »Anderen« in sich selbst, mit anderen Menschen und mit anderen Kulturen zu suchen. Das ist keine leichte Aufgabe, denn diese Beziehung ist oft nicht schmerzfrei. Dialog führt uns schnell an unsere Grenzen. Es gibt eine Dynamik der traumatischen Verhärtung. Viele unserer persönlichen, aber auch unsere kulturellen und globalen Konflikte zeigen, wie traumatische Verhärtungen jeder kreativen Lösung im Wege stehen. Aber es gibt auch eine Dynamik der Auflösung dieser Verhärtungen. Die Bewusstseinskultur der letzten Jahrzehnte, die Psychotherapie, aber auch das neue Interesse an Achtsamkeit haben dazu viel beigetragen. Ein Schlüssel zu dieser Dynamik sind Beziehung und Dialog.

Wie können wir in einer verwundeten Welt leben? Ich habe keine wirkliche Antwort. Beziehung und Dialog mögen auf den ersten Blick wie ein dürftiger Versuch erscheinen in Anbetracht dieser Herausforderung. Aber womöglich fragt uns wirklicher Wandel genau danach. Ich muss an die Frage denken, die Charles Eisenstein oft stellt: Was bedeutet es, du zu sein? Er sieht darin den Beginn einer empathischen Erkundung. Wenn Bewusstsein allumfassend ist, können dann empathische Beziehungen zwischen Menschen, die ihre Geschichte der Trennung und des Konflikts übersteigen, womöglich mehr Transformationskraft entfalten als wir meinen?

Wenn ich hier die Dimension des Bewusstseins anspreche, möchte ich damit nicht die Notwendigkeit ausblenden, unsere sozialen und politischen Systeme zu verändern. Ich glaube auch nicht, dass unsere Aufgabe bei einer Bewusstseinspraxis endet. Die tiefe Realität unseres Einsseins ist kein Freifahrtschein, uns von der Aufgewühltheit und dem Schmerz, der das Leben und die menschlichen Beziehungen auf diesem Planeten durchzieht, zu distanzieren.

Wir sind eins. Und wir sind gespalten. Können wir mit den sehr realen Unterschieden zwischen uns in Berührung sein, ohne uns abzuspalten? Das war meine Erfahrung im virtuellen Zusammensein mit Aninay. Wir alle waren tief verbunden in der Online-Konferenz, und ich war mir sehr bewusst, wie radikal sich ihre Erfahrungen von meinen eigenen unterschieden. Ich habe nicht versucht, ihre Probleme zu lösen, das hätte ich ohnehin nicht gekonnt. Ich konnte nur mit ihr sein und ihr Leiden wie auch meine eigene Hilflosigkeit, ihm etwas entgegenzusetzen, bezeugen. Ich konnte ein Echo ihrer Hilflosigkeit sein. Und genau das machte für sie einen Unterschied. Sie fühlte eine neue Stärke und Verbundenheit, die über das Grauen ihrer gegenwärtigen Lebensumstände hinauswiesen.

Zu bezeugen was ist, präsent und nicht getrennt zu sein von einem anderen menschlichen Wesen in seiner Not und der Welt in ihrem Verwundetsein, ist eine Fähigkeit, die nur in Dialogen aufscheinen kann, im Raum zwischen uns. Deshalb lädt evolve so viele Menschen wie möglich ein, am 2. und 3. Dezember in dem 24-Stunden-Event »One World Bearing Witness« die Schmerzpunkte in aller Welt zu bezeugen. Diese Fähigkeit zu entwickeln, mit anderen menschlichen Wesen präsent zu sein, ist etwas, das uns allen möglich ist. Vielleicht kann so jede und jeder von uns zu einem Lichtblick für eine verwundete Welt werden.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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