Wurzeln in der Gegenwart

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Essay
Publiziert am:

November 7, 2019

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Ausgabe 24 / 2019:
|
November 2019
Offene Heimat
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Können wir Heimat von der Vergangenheit befreien?

Was kann Heimat sein in einer entgrenzten Welt, in der Brüche normal sind und Verwurzelung zur Sehnsucht wird? In einer Zeit des Flüchtigen ist sie vielleicht kein Ort mehr aus der Vergangenheit, sondern eine immer wieder bekräftigte Beziehung zur Gegenwart.

Ich bin ein eher seltenes Exemplar von Sesshaftigkeit. Mein Lebensraum, das sind rund 50 Quadratkilometer im Herzen des Rhein-Main-Gebiets. Hier bin ich geboren und aufgewachsen, hier habe ich studiert, hier arbeite ich, hier lebe ich. In den Augen moderner Nomaden bin ich wahrscheinlich so etwas wie ein Fossil. Für meine Großeltern und Eltern war das Leben hier ein Neuanfang, ein Bruch mit den Orten, aus denen sie ursprünglich stammten. Sie sind hier beerdigt, doch ihre Wurzeln liegen anderswo. Und obwohl für mich die Region schon nahezu 50 Jahre mein Zuhause ist, zieht sich dieser Riss auch durch mein Leben und ein Teil von mir fühlt sich bis heute heimatlos. Besonders bewusst wurde mir diese Verletzlichkeit, als ich vor einigen Jahren mein Elternhaus verkaufte. Es war mir immer ein objektiver Halt gewesen, ein Ort aus Stein, der den Flüchtigkeiten standhielt. Es mag ein Klischee sein, aber im Filmepos »Heimat« von Edgar Reitz suchte ich mir in dieser Zeit einen virtuellen Zufluchtsort. Ich hoffte, in den Geschichten anderer, die mehr Dauer zu haben schienen als meine eigene, etwas von der tieferen Geborgenheit zu spüren, die ich selbst auf einmal schmerzlich vermisste.

Bild: Christian Kreisel

»Der Mensch ist ein Ortswesen«, sagt der Philosoph Byung-Chul Han. Das Hunsrück-Dorf, von dem Edgar Reitz erzählt, ist ein Ort, der Menschenleben prägt und hält, zum Teil über viele, viele Generationen. Doch es ist kein Sehnsuchtsort, an dem sich romantische Vorstellungen von Heimat erfüllen. Armut und Hunger zwingen immer wieder Familien, die ihnen vertraute Umgebung zu verlassen. Andere entfliehen der dörflichen Enge in die weite Welt, weil die ländliche Engstirnigkeit ihnen die Luft zum Atmen nimmt. Und zwei Weltkriege hinterlassen tiefe Risse in der dörflichen Kontinuität von Raum und Zeit.

Auf mich hatten die Geschichten aus dem Hunsrück eine heilsame Wirkung. Nicht, weil ich in ihnen die erhoffte Idylle fand, sondern weil sie mir bewusst machten, dass die Brüche in meiner Familie kulturelle Normalität sind. Die Heimat meines Vaters und seiner Eltern war ein kleines Bauerndorf, das heute zu Serbien gehört. Das Trauma des Krieges und der Vertreibung ließ sie zu einem Un-Ort werden. Die Mutter meiner Mutter kehrte der geistigen Enge des elterlichen Bauernhofs in Franken den Rücken und suchte in Frankfurt ihr Glück, eine Abnabelung, die ihre Familie ihr nie verzieh. Ob erzwungen oder freiwillig gewählt, es waren Neuverortungen, die einen Preis hatten. Und die mich, obwohl ich lokal fest verwurzelt bin, bis heute auch eine Bodenlosigkeit empfinden lassen.

All das ist mehr als meine kleine Familiengeschichte. Seit dem 19. Jahrhundert wanderte mehr als die Hälfte der deutschen Landbevölkerung in die Städte ab und ließ die vertraute Umgebung hinter sich. In Folge des Zweiten Weltkriegs wurden etwa 14 Millionen Deutsche durch Flucht und Vertreibung entwurzelt. Eine große Mehrheit der Menschen heute dürfte also, ähnlich wie ich selbst, eine eher gebrochene Beziehung zu dem Ort haben, an dem sie lebt. »Die Globalisierung entgrenzt, ent-ortet die Welt. Gerade angesichts dieser Gewalt des Globalen erwacht der Ortsfundamentalismus«, so Byung-Chul Han.

Vielleicht kommt Heimat mir entgegen, wenn ich den Mut habe, auf sie zuzugehen.

AfD-Parolen wie »Hol Dir Dein Land zurück« treffen sicher die Ängste vieler. Aber sie gehen auch an der Lebensrealität vorbei, denn sie beschwören eine heile Vergangenheit, die eher eine Ausnahme ist als die Regel. Wenn ich an Serbien oder Franken denke, spüre ich nur eines – dass ich keinerlei Beziehung zu diesen Orten habe, mit denen noch meine Großeltern viel verband. Und in diesem diffusen Dazwischen bin ich nicht alleine. Mehr als die Hälfte aller Deutschen ist schon einmal um der Arbeit willen umgezogen. Bereits Teenager verbringen mehrere Stunden täglich in digitalen Welten. Natürlich gibt es auch heute noch Menschen, die über viele, viele Generationen an einem Ort leben und sich aufgehoben fühlen, doch das ist schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr.

Das Bedürfnis, in einer Umgebung so verwurzelt zu sein, dass sie das eigene Leben wirklich hält, bleibt jedoch. Zu den Heimaten meiner Familie fühle ich mich nicht zugehörig, weil mich mein gelebtes Leben nie mit ihnen verbunden hat. Nach so vielen Jahrzehnten sind sie für mich sehr, sehr ferne Vergangenheit. Wonach ich suche, ist eher ein Fundament, das mein Leben im Hier und Heute trägt. Habe ich vielleicht bisher in die falsche Richtung geschaut?

Der Soziologe Hartmut Rosa schrieb kürzlich in einem Beitrag in der »Zeit«, dass unsere modernen, unverbindlichen Lebensstile einer »spirituellen Unabhängigkeitserklärung gegenüber der Welt« gleichen und einer »existenziellen Bezogenheit« im Wege stehen. Mich haben seine Worte auf unerwartete Weise getroffen, denn er bringt auf den Punkt, was meine Heimat-Sehnsucht mich vermissen lässt. Und er deutet an, dass eine solche existenzielle Beziehung heute möglich sein kann. Heimat im Heute? Das stellt gängige Vorstellungen komplett auf den Kopf. Denn dann wäre das Gefühl eines tieferen Geborgenseins an einem Ort kein Rückenwind aus der Vergangenheit, sondern eher eine immer wieder erneuerbare Verbindung in der Gegenwart.

»Was mir vorschwebt, ist ein Verhältnis zu Natur und Geschichte, zu den politischen Institutionen und zu den Mitmenschen und am Ende auch ein Selbstverhältnis, das eine wechselseitige Beziehung ist«, sagt Hartmut Rosa. Wenn ich mich darauf einlasse, wird Heimat eigentlich überall möglich, weil sie dann davon lebt, dass ich meine Lebenswelt berühre und mich von ihr berühren lasse. Sie wäre etwas Beständiges, wenn ich bereit bin, mich immer wieder in dieser Verbindung zu verwurzeln.

In einer solchen Wendung nach vorne liegt eine Kraft, die mich von den Brüchen und Verlusten meiner familiären Geschichte freier werden lässt. Da ist ein Ahnen, wie hier etwas entstehen kann, das selbst in dieser so flüchtigen Zeit trägt. Diese Heimat ist kein schon bekannter Zufluchtsort. Sie kommt mir entgegen, wenn ich den Mut habe, auf sie zuzugehen.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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