Wurzeln und Flügel

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Essay
Publiziert am:

October 19, 2017

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Issue 16 / 2017:
|
October 2017
Lichtblicke für eine verwundete Welt
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Dialog über das »Deutschsein«

Als diese Zeilen geschrieben wurden, lagen die Bundestagswahl und ihr Ergebnis noch in umkämpfter Zukunft. Der Beitrag kann deshalb gar nicht anders, als einige wahlübergreifende, grundlegendere Aspekte anzusprechen. Doch dies zu tun, könnte heute ohnehin anstehen. Es scheint jedenfalls wieder an der Zeit zu sein, dass sich die verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen des Landes – oder nach der Evolutionstheorie Spiral Dynamics die unterschiedlichen »Meme« – zu einem Dialog zur Gegenwart und Zukunft Deutschlands treffen.

Es war die überraschende Wiedervereinigung von 1989/90, die zuletzt einen solchen Anlass bot. Doch heute leben wir erneut in einer Zeit der Zäsur, einer »Wendezeit«. Oder wie anders sollte man die Stimmung und die Situation bezeichnen, die durch die unvorhergesehene Zuwanderung von mehr als einer Million Menschen aus überwiegend entfernten Kulturen im Land entstanden ist? Diese Immigration führte unter anderem zu einer Entwicklung, die von den meisten Deutschen nicht (mehr) in ihrem Land erwartet und für möglich gehalten wurde. Gemeint ist die Wiederkehr einer relativ etablierten rechtsextremen Partei und Strömung in der Gesellschaft. Die heutige Realität dieser beiden neuen Minderheiten allein macht einen erneuten Dialog, einen Runden Tisch überfällig.

Doch mehr noch als bei der Wiedervereinigung sind hier die beteiligten Gruppierungen schwer zu fassen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die Immigranten haben keine legitimierten Sprecher und Interessenvertreter. Der rechtspopulistische Teil der Gesellschaft dagegen kann zwar Repräsentanten stellen, doch diese werden von den anderen Parteien weitgehend geschnitten. Das hat mit der Besonderheit der deutschen Geschichte zu tun, denn ansonsten gibt es in fast jedem westlichen Land einen vergleichbaren rechten Prozentsatz in der Gesellschaft, der im Rahmen des Parteienspektrums mehr oder minder als »normal« angesehen wird. Um miteinander zu sprechen, müssten deshalb wohl alle Gesprächspartner zunächst über ihren eigenen Schatten springen. Im Gegensatz zur Wahl zielt dieser Dialog nicht auf die künftige Tagespolitik. Worum es gehen sollte, ist eine neue Standortbestimmung des Deutschseins, ein möglichst breit akzeptiertes Verständnis dessen, was heute deutsche, und generell nationale Identität ausmacht und bedeutet.

Die Tiefenidentität eines Landes ist ein Entwicklungsprozess.

Die alten Antworten zum »Nationalen« greifen nicht mehr. Deutschland hat den »völkischen«, selbstbezogenen Nationalitätsmythos bis zum grausigen und pervertierten Exzess ausgelebt. Da gibt es kein Zurück mehr. Aber die heute verbreitete, eher linke und pragmatische Vorstellung von Ländern als beliebige Sozialverbände, deren rein ökonomische Aufgabe es vor allem ist, fair für alle zu sorgen, wirkt andererseits wie eine rationalistische Verengung. Hier wird die Realität einer authentischen Identität von nationalen Gesellschaften einfach bestritten. Die von der SPD gestellte Ausländerbeauftragte der vorigen Bundesregierung konstatierte etwa, dass sich überhaupt keine spezifisch deutsche Kultur identifizieren ließe. Sie bezog sich zwar auf eine vermeintliche »Leitkultur«, doch konnte sie auch keine andere deutsche Tiefenidentität erkennen.

Beide Extreme lassen nur den einen Schluss zu, dass es ein neues Narrativ, eine neue Erzählung des Nationalen braucht. Eine, die sowohl die heute erreichte liberale und pragmatische Verfassung als auch das übergreifende und unverwechselbare innere Seelenfeld Deutschlands und jedes anderen Landes integrieren kann. Eine in dem Sinn integrale Definition würde Nationen als offene und evolvierende, aber zugleich einzigartige, seelische Werte- und Schicksalsgemeinschaften betrachten.

Jenseits von ethnischer, territorialer und traditionell mythischer Gebundenheit, doch ebenso jenseits von rationalistisch reduzierter, alles Sakrale und Identitäre ausklammernder Beliebigkeit.

Kann diese Beschreibung das essenzielle Identitätsempfinden auch des weit rechts liegenden Konservativismus würdigen? Und ist sie zugleich liberal, sozial und multikulturell genug für linksdemokratischen Zeitgeist? Es sollte jedenfalls eine Plattform sein, die neben den etablierten Repräsentanten des Landes auch Vertreter der Immigranten sowie Parteigänger der Rechten zur Teilnahme bewegen kann. Bei jeder dieser drei Gruppierungen wird es allerdings einen harten – oder besser gesagt: verhärteten – Kern geben, der zu diesem Dialog keine Bereitschaft zeigt. Es sind diejenigen, die keinen Impuls und kein Wissen zu einer möglichen (Ko-)Evolution von Welt und Gesellschaft gefunden haben.

Sind das abgehobene »Selbstverwirklichungs-Utopien«? Mitnichten. Wenn wir nicht beginnen, tiefer zu denken – was eigentlich als ur-deutsches Charakteristikum gilt! – droht unser bundesdeutscher Alltag so wie in anderen Ländern zunehmend und strukturell von Gewalt, Reibung und Abgrenzung mitgeprägt zu werden. Doch um genügend Konsens für ein friedliches und bereicherndes Zusammenleben zu erzeugen, brauchen wir keine aus Klischee und Vergangenheit abgeleitete Leitkultur.

Die Tiefenidentität eines Landes ist eine Art Entwicklungsprozess, allerdings ein jeweils einzigartiger. Die deutsche Gegenwart ist die mehr oder minder verarbeitete Erfahrung einer reichen, aber teilweise auch sehr bitteren Vergangenheit. Sie steht zur Weiterentwicklung allen, und natürlich auch den Neu-Bürgern offen. Sie sind eingeladen, auch ihre Werte einzubringen. Allerdings nicht in der traditionellen Gestalt ihrer Herkunftsländer. Werte sind heute keine unveränderlichen Mythen mehr, sondern jeweils neu zu interpretierende Grundsatz­orientierungen. Manchmal vergessen wir die reiche Skala dieser Interpretationsvielfalt.

Der Islam z. B. war im frühen Mittelalter in wunderbarer Weise in der Lage, wissenschaftliches Denken und Mystik zu integrieren. Eigentlich vertraut für Deutsche, denn unsere Geschichte zeigt, dass auch das hiesige Identitätsfeld eine ausgeprägt geistige Dimension aufweist. Der Autor und Filmemacher Rüdiger Sünner sagte im privaten Gespräch einmal, dass vielleicht unter all den persischen und syrischen Neudeutschen auch einige Sufis und Mystiker sein könnten, die ihren Teil dazu beitragen werden, dass die Deutschen ihren eigenen Idealismus und ihre seelische Romantik neu entdecken können.

Um auch hier kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es kam wohl kaum einer der Flüchtlinge nach Deutschland, um dessen Romantik wiederzubeleben! Sie wollten stattdessen Krieg und Hoffnungslosigkeit entkommen. Aber nun sind sie hier und sehr viele werden bleiben. Das ist Realität und es gilt, das Beste daraus zu machen. Das Grundsatzgespräch soll und kann deshalb die Fortschreibung einer gemeinsamen deutschen Identität erkunden. Ihre bewusste Wahrnehmung ist zumindest längerfristig ebenso notwendig wie materielle Sicherheit und Versorgung.

Der Mensch, so heißt es, sei das einzige Wesen mit Wurzeln und Flügeln. Flügel, um die Welt zu entdecken. Wurzeln, um sich dabei mit Heimat zu verbinden.

Mehr als eine Millionen Zuwanderer in Deutschland, eine rechtspopulistische Partei im Bundestag – unser Land steht vor einer Zäsur.Was bedeutet nationale Identität in solch herausfordernden Zeiten? Und wie können wir uns darüber konstruktiv verständigen?

Author:
Wolfgang Aurose
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